Darüber hinaus bringt der Leib analog zu Retentionen des Bewusstseins Vergangenes in die Gegenwart, allerdings nicht so, dass es ins Bewusstsein geholt würde, sondern z. B. eingeübte Abläufe oder Routinen vorbewusst vollzogen werden. Nachdem sie erlernt worden sind, können diese ohne Nachdenken durchgeführt werden bzw. laufen wie von selbst ab, etwa wenn man das Tippen auf einer Tastatur beherrscht, sich im Tanzen der Musik überlassen kann oder nicht mehr überlegen muss, wie man ein Auto lenkt.7 Aber auch leibliche Protentionen werden ständig vorbewusst vollzogen, sofern etwa wie von selbst vorweggenommen wird, wie man seinen Gang auszutarieren und fortzusetzen hat, wenn der Weg plötzlich abfällt oder ansteigt. Dass dabei auch Fehler unterlaufen können, wird sichtbar, wenn man stolpert oder kurz aus dem Gleichgewicht gerät.8
Die erwähnten Beispiele zeigen, dass Zeit nicht nur mit Hilfe des Bewusstseins strukturiert wird, sondern dass sich die Zeitekstasen von Vergangenheit und Zukunft auch durch den eigenen Leib entfalten. Leibgedächtnis9 und leibliche Antizipationen spannen einen Zeithorizont auf, der logisch vor der Konstitutionsleistung des Bewusstseins angesiedelt ist und unabhängig von diesem Bestand hat. Im Unterschied zu objektiver Zeit, die von außen an einen herangetragen wird und gemessen werden kann, ist die Zeit, die der eigene Leib aufspannt, eine Form subjektiver und innerer Eigenzeit. Dazu gehören auch körperliche Rhythmen wie jener des Herzens oder zirkadiane Rhythmen wie etwa die Abfolge von Wachen und Schlafen.
2 Diskrepanz zwischen innerer und äußerer Zeit
Wenn das Sprichwort Recht behält, wonach Zeit Geld ist, wird Geschwindigkeit zu einem wichtigen ökonomischen Faktor. Mit dem Anstieg der Übertragungsgeschwindigkeit von Information oder des Tempos für die Herstellung eines Produktes kann die Zeit, die man für solche Vorgänge braucht, verkürzt werden. Soll die gleiche Menge eines Gutes hergestellt werden und wird die Geschwindigkeit dabei beispielsweise verdoppelt, so könnte die Hälfte der Zeit, die früher dafür notwendig war, freigespielt werden und stünde für andere Tätigkeiten oder für Erholung zur Verfügung. Wird die Geschwindigkeit der Datenübertragung gesteigert und werden Produktionswege verkürzt, wie Jean Baudrillard gezeigt hat, wird Zeit nach der Logik der Gewinnmaximierung genutzt, die einen die frei gewordene Zeit dafür zu verwenden zwingt, noch mehr Information zu verarbeiten bzw. noch mehr Produkte herzustellen. Beschleunigung trägt nicht dazu bei, Zeit für sich zu gewinnen, sondern „frisst“ Zeit, ist also „chronophag“10, und zwingt einen, in der ursprünglich zur Verfügung stehenden Spanne nun das Doppelte zu leisten. Die Dimensionen werden immer mehr verkürzt und drohen, in der Gegenwart aufzugehen.11 In jedem Fall wird Zeit gleichsam immer „weniger“, und der eigene noch freie Zeithorizont läuft Gefahr, sich zu erschöpfen.
Das Phänomen, dass unter den Bedingungen wirtschaftlichen Wachstums Zeit immer knapper wird, führt unweigerlich zur „Erfahrung von Zeitnot und Stress und dem Gefühl, keine Zeit zu ,haben‘ “ sowie zu dem Eindruck, dass „[f]ür die eigentlich wertvollen Tätigkeiten […] keine Zeit“12 bleibe. So führt berufliche Mehrbelastung unweigerlich zu Freizeitstress, weil man versucht, in der arbeitsfreien Zeit immer mehr von dem unterzubringen, was man für wertvoll hält. Da die Ansprüche, die an den Menschen herangetragen werden, ständig steigen, um Fortschritt zu garantieren, fordert Beschleunigung der äußeren Zeitabläufe viele immer mehr heraus und lässt Fragen nach ihren Grenzen laut werden.
Dieser soziologische Befund macht auf eine auch anthropologisch bedeutsame Diskrepanz zwischen zwei den Menschen bestimmenden Zeiten aufmerksam. Während die Rhythmen und Abläufe, die der inneren Zeit folgen, in ihrem Tempo kaum gesteigert werden können, erhöhen sich die zeitlichen Anforderungen von außen. So treten die innere und die äußere Zeit immer weiter auseinander. Nicht mehr die jeweilige Eigenzeit gibt das Maß für Produktionszeit, Freizeit oder andere soziale Abläufe vor. Vielmehr dreht sich das Bestimmungsverhältnis um. Äußere Zeit wird zum Maß für die innere, ohne dass diese aus Gründen leiblicher Verfasstheit mit den äußeren Vorgaben mithalten könnte.
Ein solches Missverhältnis unterliegt psychischen und physischen Grenzen und kann, wenn die Spannung zu groß wird, zu Pathologien führen. So fußt etwa das Burnout-Syndrom13 auf Störungen, die darin gründen, dass die Differenz zwischen innerer und äußerer Zeit zu groß geworden ist.14 Wenn soziale und leibliche Zeit zu weit auseinandertreten, kann es schließlich nicht nur zu psychischen Problemen kommen, sondern auch zu leiblichen, die sich etwa in gehemmten Bewegungsabläufen äußern.
3 Strukturen innerer und äußerer Zeit
Verdeutlicht man sich, dass Eigenzeit bzw. innere und soziale bzw. äußere Zeit meist nicht oder nur in seltenen Fällen völlig miteinander identisch sind, sondern mehr oder weniger auseinanderdriften, was bis zu pathologischen Konsequenzen führen kann, erscheint die Frage, die der Titel dieses Beitrags stellt, in einem anderen Licht. Denn es wird sichtbar, dass Zeit nicht nur eine objektive Seite, sondern auch eine subjektive aufweist. Um letzterer ansichtig zu werden, bedarf es allerdings einer methodischen Umkehrung: weg von der Vorstellung von Zeit als einem objektiven Gegenüber und hin zur personalen Einstellung, die einen Zugang zu Zeit als der eigenen Zeit eröffnet.15 Denn der allgemeine Blick auf Zeit, in dem diese qualitätslos zu sein scheint, aber gemessen werden kann, fördert deren Implikationen, die sie für eine bestimmte Person aufweist, nicht zutage. Es besteht beispielsweise ein wesentlicher Unterschied zwischen der Errechnung durchschnittlicher Lebenserwartung einer Generation und der Betroffenheit durch den eigenen Tod nach einer bestimmten Anzahl individueller Lebensjahre. Das Ende der eigenen Existenz hat eine andere Valenz für einen selbst als die abstrakte Wahrscheinlichkeit für das Lebensende im allgemeinen Durchschnitt.
Folgt man der Perspektive, die einen selbst involviert sein lässt, erkennt man, dass sowohl das eigene Bewusstsein als auch der eigene Leib ihre persönliche Zeitstruktur aufweisen. Mein Leibgedächtnis und meine subjektiven Rhythmen zeigen bestimmte und unverwechselbare Qualitäten auf, die anderen Menschen nicht eignen. Die eigene Vergangenheit und die eigene Zukunft sind also nicht allgemeiner, sondern individueller Natur, mehr noch: Sie machen mit aus, wer ich selbst bin. Im Laufe meines Lebens entfalte ich mich, indem ich mich leiblich zeitige, älter werde und in meiner Biografie allmählich zu mir selbst komme, also mich zu dem oder der entwickle, der oder die zu werden mir offensteht. Personale Zeit gibt es zunächst nur im Plural, sie ist individuell differenziert und strukturiert.
Fragt man also, warum Menschen eine strukturierte Zeit brauchen, so ist zu antworten: weil sie selbst zeitlich strukturiert sind. Menschen können gar nicht anders, als sich zu zeitigen und zeitlich zu leben. Das gilt einerseits in einem generellen Sinn, selbst dann, wenn man Zeit nicht schon als messbare vor Augen hat. Denn menschliches Dasein kann sich nur zeitlich vollziehen, erstreckt sich also in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sodass Menschen auf die drei Zeitdimensionen ausgelegt sind und den Horizont ihrer Existenz in der Zeit finden.16 In diesem Sinn charakterisiert Zeit das menschliche Dasein im Allgemeinen und von vornherein. Andererseits ist in personaler Sicht aber auch erkennbar, dass neben dieser allgemeinen temporalen Bestimmung auch daran festzuhalten ist, dass Zeit eine individuelle Dimension aufweist. Diese schlägt sich darin nieder, dass Menschen unterschiedliche Lebensgeschwindigkeiten haben – nicht nur nach dem jeweiligen Lebensalter abgestuft –, ihre Leibesrhythmen differieren, das jeweilige Leibgedächtnis unterschiedlich ausgeprägt ist und sie unterschiedlich altern. Daraus folgt, dass die angesprochene Notwendigkeit, Zeit zu strukturieren, für die einzelne Person und deren Zeitstruktur unumgänglich ist bzw. dass äußere Zeit von jedem und jeder anders strukturiert werden muss, will man sich nicht die eigenen Lebensmöglichkeiten verbauen. Soll es nicht zu Verwerfungen oder gar zeitlichen Pathologien kommen, kann man nicht umhin, darauf zu achten, dass wichtige Zeitstrukturen für einen selbst adäquat sind.
4 Strukturen interpersonaler Zeit
Leibzeit