3 Wer macht die Zeit? Strukturwandel der Zeitstrukturierung
Zeitordnungen umfassen nicht nur Kalender als Instrumente der Strukturierung der Rahmen-Zeiten der jeweiligen Gesellschaften, sondern – je nachdem, in welchem Umfang die Durchdringung einer Gesellschaft mit zeitlichen Regeln in immer mehr Teilsystemen voranschreitet –, darüber hinaus bedeuten sie einen Gesamt-Prozess der „Verzeitlichung der Gesellschaft“7: In der modernen Gesellschaft finden sich dann fast alle Dinge, die existieren – jedes menschliche Verhältnis, jeder wirtschaftliche Vorgang, jede technische Entwicklung, Kunst, Kultur und Religion –, direkt oder indirekt in einer Relation zum Faktor Zeit wieder. Nicht zuletzt betrifft das auch die Entdeckung eines bis zur Aufklärung weithin unbekannten sozialen Konstrukts von „geschichtlicher Zeit“8. So lassen sich auch die uns auf den ersten Blick als Naturkonstante erscheinenden Fernorientierungsmuster „Vergangenheit“, „Gegenwart“ und „Zukunft“ als an Epochen gebundene Kreationen des menschlichen Geistes beschreiben.9
Soweit man sehen kann, lassen sich drei, in historischer Abfolge auftretende, Strukturierungsmodi gesellschaftlicher Zeitordnungen unterscheiden. Deren gemeinsames Merkmal besteht darin, dass sie bezeichnen, in welcher Art und Weise und auf Basis welcher gesellschaftlichen Umstände bzw. Rechtfertigungsordnungen Zeitstrukturierung in einer jeweiligen historischen Epoche erfolgt und wer oder was – epochenspezifisch – das Subjekt, der entscheidende Akteur dieses Vorganges ist.
3.1 Drei Strukturierungsmodi
Es lassen sich unterscheiden:
– der autoritäre Strukturierungsmodus
– der marktlich-technologisch-administrative Strukturierungsmodus
– der nachmodern-subjektbezogene Strukturierungsmodus
Beim Auftreten eines historisch neuen Zeitstrukturierungsmodus verschwindet der zuvor dominante Zeitmodus nicht; vielmehr bleiben die frühen Modi in mehr oder weniger ausgeprägter Form in den späteren weiter bestehen. Jedoch nimmt ihre Bedeutung gegenüber dem/den jeweils jüngeren Strukturierungsmodus/i ab und bleibt als historisches Relikt auf eher marginale gesellschaftliche Teilsysteme beschränkt.
3.1.1 Der autoritäre Strukturierungsmodus
Mit diesem ist die Entstehung einer Zeitordnung durch Erlass eines dazu autorisierten politischen oder/und religiösen, mehr oder weniger totalen Herrschers gemeint, aber auch durch das gegebenenfalls personenunabhängige Wirken autoritär-hierarchisch verfasster religiöser Institutionen. Der autoritäre Strukturierungsmodus umfasst die weitaus längste Phase in der Geschichte der Menschheit bzw. ihrer sozial-kulturellen Entwicklung. Sie reicht von den chinesischen Dynastien über die ägyptischen Herrscher bis in die griechische und römische Antike,10 sie umfasst europäische Kaiser und die Hochzeit der katholischen Kirche im mittelalterlichen Europa, ebenso etwa die Mayakultur11 auf dem amerikanischen Kontinent. Immerhin ist auch der noch heute gültige Gregorianische Kalender (nach ISO 8601) in seinem Ursprung das Resultat herrschaftlicher Verfügung, nämlich einer Bulle Papst Gregors des XIII. aus dem Jahr 1582. Wobei allerdings erst im Jahr 1700 die protestantischen Staaten Deutschlands diesen übernahmen, um sich dem päpstlichen Machtanspruch eines „Universalkalenders“ nicht unterordnen zu müssen.12 Ebenso lässt sich die im deutschen Verfassungsrecht festgeschriebene Sonntagsruhe bis auf einen Erlass des römischen Kaisers Konstantin zurückverfolgen.13 Inwiefern jedoch die beiden neuzeitlichen Versuche, in Abgrenzung zum alten Regime neue Kalender zu etablieren, wie der auf einem Zehnersystem beruhende französische Revolutionskalender oder jener der Oktoberrevolution in Russland14 als entweder autoritär verfügt oder im Gegenteil als besonders dem Volkswillen entsprechend gewertet werden können, kann hier nicht geklärt werden.
Obwohl es bei Kalendern stets um Machtdemonstrationen geht, indem darin das Alte als überwunden dargestellt wird, etwa gegenüber der verhassten Siebener-Symbolik der christlichen Tradition,15 darf man sich die Entstehung von Kalendern bzw. neuen Zeitordnungen nicht als aus dem Nichts geschöpfte Kreationen vorstellen.16 Zumeist setzen sie auf bereits Vorhandenem auf und modifizieren dies. Das gilt gleichermaßen für religiös begründete Zeitordnungen: So entstand der christliche Sonntag in Abgrenzung zum jüdischen Sabbat,17 übernahm jedoch mehr oder weniger explizit das Ruhegebot aus dem Alten Testament,18 während der islamische Freitag, der wiederum in Abgrenzung zu beiden entstand, zwar dem Sieben-Tage-Rhythmus folgt, jedoch kein Arbeitsverbot beinhaltet.
3.1.2 Der marktlich-technologisch-administrative Strukturierungsmodus
Dieser Modus tritt, wie die Bezeichnung nahelegt, mit der Moderne auf, die hier sehr weit und mit großen Übergangsphasen gefasst wird. Hans-Willy Hohn charakterisiert sie zeittheoretisch sehr schön bildhaft als die Epoche, in der „aus einem göttlichen Gut eine Handelsware wurde“19. Was die Strukturierung von Zeit betrifft, unterscheidet sich dieser Modus vom autoritären dadurch, dass erstens die allgemeine Verzeitlichung der Gesellschaft, das heißt die Durchdringung aller Teilsysteme mit zeitlichen Referenzen bzw. Vorgaben stark vorangeschritten ist, dass sich die Bedeutung von Zeit im Alltag der Menschen also bei weitem nicht mehr nur auf die zeitlichen Vorgaben des geltenden Kalenders beschränkt. Fast alle Lebensbereiche werden nun mehr oder weniger in Abhängigkeit eines heterogenen Bündels zeitlicher Normierungen bewertet, in die sich die Menschen, ohne gefragt zu sein, einzufügen haben. Dadurch entstehen u. a. so genannte „Time Scapes“, Zeit-Landschaften20. Äußeres Anzeichen für ein zunehmend engmaschiges Netz der Zeit ist unter anderem die wachsende Verbreitung von Uhren seit Beginn der Industrialisierung, nicht nur in den Städten.21
Der marktlich-technologisch-administrative Strukturierungsmodus, der charakteristisch ist für die Phase der ersten industriellen Moderne, setzt sich gleichsam aus drei Komponenten zusammen, und zwar a) der Zeitlogik des Marktes, b) den Zeitnormen moderner Technologien, c) der Wirkung staatlicher bzw. öffentlicher Institutionen und ihrer Administrationen auf die Strukturierung der geltenden Zeitordnung.
3.1.2.1 Marktlogik
Charakteristisch ist das Vordringen zum einen des Prinzips „schneller ist besser“ sowie eines Rationalisierungsimperativs, der darin besteht, bereits reduzierte Aufwandszeiten im unendlichen Regress weiter und weiter zu reduzieren; ich habe diesen als das Prinzip der „infinitesimalen Verwendungslogik der Zeit“22 bezeichnet. Dieser Mechanismus hat tendenziell die Wirkung, die Rechtfertigungsordnungen der alten, vormodernen Gesellschaftsformationen, repräsentiert durch politische Herrscher oder dominante religiöse Institutionen und deren Weltsichten, zu de-legitimieren: Die Marktlogik und ihre zeitlichen Implikationen hinterlassen auf längere Sicht einen Bedeutungs- und Machtverlust des Politischen und des Religiösen. In dem Ausmaß, wie sie von Modernisierungsprozessen erfasst worden sind, strukturieren nun anstelle autokratischer Herrscher/innen und ihres Machtapparates anonyme, aber nicht weniger unabweisbare, abstrakte Wirkmechanismen die Zeiten der Gesellschaft. An die Stelle der Hegemonie eines oder mehrerer handelnder personaler Subjekte und der ihnen unterworfenen Institutionen treten nun die stummen Handlungs-Logiken der gesellschaftlichen Teil-Systeme Wirtschaft und Technologie. Die Zeiten des Marktes bzw. die hiermit ausgelöste Verwendungslogik der Zeit – dass nämlich komparativ zu Wettbewerbern längere Aufwandszeiten zu vermeiden sind, weil sie zu suboptimalen wirtschaftlichen Ergebnissen führen – können, anders