»Ich werde gehen, wenn es an der Zeit ist. Tsongkapa sagt: ›Gehe zu den Menschen, ihnen die Neuordnung der Dinge zu verkünden‹ …«
Ein dumpfes Krachen unterbrach die Worte. Ein Schüttern und Beben gingen durch die Eishöhlen. Wie wenn die Schollen schweren Packeises im Sturm knirschend gegeneinandergepreßt werden. Der Boden, auf dem sie standen, schwankte.
»Der Strahler …!«
Atma sprach es, bevor noch Erik Truwor oder Silvester ein Wort fanden.
»Wo steht der große Strahler?«
»Im unteren Gange.«
»Nach oben damit! Von unten kommt das Wasser.«
Der Inder eilte schon dem unteren Gange zu. Erik Truwor und Silvester folgten ihm. Über die breiten Eisstufen ging der Weg nach dem untersten Gang, der zu den Werkstätten und Laboratoriumsräumen führte. Zu gewöhnlicher Zeit ein leichter und bequemer Weg. Jetzt nur mit Vorsicht zu beschreiten. Der ganze Berg schien sich um etwa dreißig Grad gedreht zu haben, und in dieser schrägen Lage war der Abstieg über die glatten Stufen äußerst beschwerlich.
Auf einem Treppenabsatz stand der kleine Strahler, den sie schon aus Amerika mitgebracht hatten.
Jetzt war das Laboratorium erreicht. Doch schon bis zur halben Höhe überflutet. Mit einem Sprung warf sich Erik Truwor in das eisige Wasser, drang bis zu dem großen Strahler vor und trieb mit einem einzigen Faustschlag die beiden Regulierhebel auf ihre Nullstellungen. Er wollte den Strahler packen und die Stufen hinauf aus dem Laboratorium schleppen. Es war zu spät. Von Sekunde zu Sekunde stiegen die gurgelnden Wasser höher, während das Knirschen brechenden Eises den Berg erzittern ließ. Schon fand der Fuß keinen Halt mehr auf dem Boden. Nur noch schwimmend erreichte Erik Truwor die Stufe der Treppe.
Das Wasser stieg. Stufe auf Stufe kam es herauf, Stufe um Stufe mußten die drei Freunde sich zurückziehen. Dabei fühlten sie einen Druck auf der Brust, ein Brausen in den Ohren, ein Ziehen in den Gelenken, Zeichen, daß die Luft sich unter dem Druck des steigenden Wassers komprimierte. Die Erscheinung gab den Beweis, daß der Berg mit den Höhleneingängen unter den Wasserspiegel geraten war und daß die eingeschlossene Luft sich jetzt in den oberen Teilen der ausgeschmolzenen Räume verdichtete.
Auf dem Treppenabsatz ergriff Atma den kleinen Strahler und hing ihn sich um.
Jetzt schien der Berg zur Ruhe gekommen zu sein. Noch fünf bis sechs Stufen wurden von dem langsam und immer langsamer steigenden Wasser überschwemmt. Dann stand die Flut.
In dem oberen Wohnraum machten sie Rast.
»Gefangen! Elend gefangen und in der Falle eingeschlossen wie Ratten. Beinahe auch schon ersäuft wie Ratten.«
Erik Truwor stieß die Worte hervor, während er die geballte Faust auf die Tischplatte fallen ließ.
Schweigend ging Atma in den Nebenraum und kehrte mit dem Arm voller Kleidungsstücke zurück.
»Du bist kalt und naß, Erik!«
Erik Truwor stand auf und ergriff das Bündel. Es war nicht angebracht, in den nassen Kleidern zu bleiben. Er ging in das Nebengemach und ließ Atma und Silvester allein.
Was war geschehen? Während Erik Truwor die Kleidung wechselte, suchte sich Silvester die Vorgänge zu rekonstruieren. Als er den Strahler verließ, wollte er ihn abstellen und den Zielpunkt von Düsseldorf fortnehmen. Die Bedienungsvorschrift war einfach. Erst den Energieschalter in die Ruhestellung, dann den Zielschalter. In seiner Erregung und Verwirrung hatte Silvester zwei Fehler begangen. Er hatte den Zielschalter nicht in die Ruhestellung auf ein unendlich entferntes Ziel gerückt, sondern in der verkehrten Richtung auf das nächst mögliche Ziel. Aus Sicherheitsgründen war die kleinste Zielentfernung des großen Strahlers auf hundert Meter bemessen. Denn wenn es möglich gewesen wäre, den Schalter auf den absoluten Nullpunkt zu bringen, dann mußte ja die Energie sich im Strahler selber konzentrieren, mußte den Apparat und nach menschlicher Voraussicht auch den, der ihn bediente, momentan in Atome auflösen.
Silvester hatte beim Fortgehen den Zielhebel falsch herumgestellt, und er hatte dem ersten Versehen ein zweites hinzugefügt, indem er auch den Energiehebel auf volle Leistung rückte. Der zweite Fehler war eine logische Folge des ersten. Beide Hebel waren in der gleichen Richtung auf die Ruhestellung zu bringen. Täuschte man sich bei der Richtung des ersten, war es sehr naheliegend, daß auch der zweite falsch geschaltet wurde.
Der Strahler hatte vom Pol aus die Richtung geradlinig auf Düsseldorf. Die Ziellinie schnitt als mathematische Gerade schräg nach unten gerichtet in den Erdball ein. Durch die falsche Bedienung hatten 10 Millionen Kilowatt in Form von Wärmeenergie schräg unterhalb des Eisberges, nur 100 Meter von ihm entfernt, im massiven Poleis gearbeitet. Mit dem Effekt natürlich, daß das Eis zu schmelzen begann, daß sich unter dem Eisberg ein größer und immer größer werdender, mit Wasser gefüllter Raum bildete. Bis die schwache Eisdecke den Berg nicht mehr zu tragen vermochte. Bis sie auf der Seite des Berges, auf die der Strahler gerichtet war, krachend und knirschend zu Bruche ging und der Berg sich halb schräg nach unten in den geschmolzenen Pfuhl wälzte.
Der Berg war nach dem Brechen des Eises um beinahe dreißig Grad gekippt. Dann war er mit der Unterkante auf den Grund dieses so plötzlich entstandenen Sees aufgestoßen und zur Ruhe gekommen. Alle Eingänge des Baues waren dabei tief unter den Wasserspiegel geraten.
Erik Truwor kam zu den beiden Freunden zurück. Er traf Silvester in leisem Gespräch mit Atma. Die blassen, abgespannten Züge Silvesters verrieten seelisches Leiden. Das Bewußtsein daß er durch seine Unvorsichtigkeit das Unglück verursacht hatte, lastete schwer auf ihm. Mit gedämpfter Stimme erläuterte er dem Inder die Möglichkeiten und Mittel, durch die man sich befreien, vielleicht sogar die alte Lage dies Berges wieder herstellen könne.
Atma lauschte aufmerksam seinen Worten, saß an seiner Seite und hatte Silvesters Rechte zwischen seinen Händen.
Erik Truwor ließ sich schweigend an dem Tisch nieder. Er verharrte in seinem Schweigen, aber seine Miene verriet, wie es in ihm kochte. Immer tiefer, immer steiler gruben sich die Falten in seine Stirn. Verachtung und Abweisung spielten um seine Lippen.
Silvester glaubte jetzt, die richtige Lösung gefunden zu haben. Man mußte den Berg so weit ausschmelzen, daß er frei schwamm und schwimmend sich in seine alte Lage zurückhob. Der Einfluß Atmas übte seine Wirkung auf Silvester. Er wurde ruhiger und eifriger. Eine leichte Röte überhauchte sein Antlitz, während er mit Bleistift und Papier die jetzige Lage des Berges skizzierte und entwarf, wie man mit der Ausschmelzung Schritt um Schritt vorgehen müsse.
Dröhnend fielen die Worte Erik Truwors in diese Erklärung: »Wie lange dauert das? – Wie viele Tage und Wochen gehen uns dadurch verloren? Ich sitze hier in der Falle, abgeschnitten von der Welt … unfähig, zu erfahren, was draußen vorgeht … unfähig, meine Macht wirken zu lassen, meinen Befehlen die Ausführung zu erzwingen …
Eine schöne Macht, die von Weiberdienst und Weiberlaunen abhängig ist … Der Welt Befehle geben … zum Spott der Welt werden wir dabei …«
Silvester erblaßte. Er zuckte zusammen, als ob jedes einzelne dieser Worte ihn körperlich traf.
»Verzeihe mir, Erik. Es war meine Schuld. Aber ich sehe schon den sicheren Weg zur Rettung.«
»Den Weg zur Rettung? … Als ob es sich darum handelte … Ich weiß, daß wir nicht verloren sind, solange wir auch nur den kleinen Strahler bei der Hand haben. In zehn Minuten können wir uns einen Weg ins Freie brennen. Mag der Eisberg dann stehenbleiben oder noch tiefer fallen. Irgendein Flugschiff können wir uns auch mit dem kleinen Strahler heranholen und bewohntes Gebiet erreichen. Aber unsere Einrichtung ist verloren. Meine Pläne erfahren einen Aufschub von Monaten …«
Erik Truwor sprang erregt auf.
»In der Zwischenzeit verlernt die Welt die Furcht vor mir …«
Ein Zucken durchlief den Körper Silvesters.
Atma erhob sich und trat auf Erik Truwor zu. Sein Gesicht suchte den flirrend ins