»Du darfst mir nicht zürnen, Horace. Es überkam mich plötzlich … gewiß eine Folge der letzten kritischen Tage. Sie haben Ansprüche auf meine Nerven gemacht, denen ich nicht gewachsen war … Die Zeitung von Dr. Glossin … oh, gewiß! Es wird dich interessieren, welchen Erfolg die Expedition nach Linnais gehabt hat. Dr. Glossin … ah, gewiß! Es wird dich interessieren, welche Nachrichten er überbringt.«
»Warum schickte er die Zeitung an deine Adresse?«
»Ich glaube … ich glaube … nun sehr einfach, ihr Männer seid doch jetzt Feinde.«
Diana Maitland versuchte zu scherzen.
»Sein patriotisches Gewissen erlaubt ihm keinen Verkehr mehr mit dir … Ich werde dir diese Zeilen übersetzen.« Sie las ihm den Inhalt der Notiz vor.
»Ah, sehr gut … Der Plan ist also gelungen. Unbegreiflich, daß noch keine Meldung von Oberst Trotter vorliegt … Doch du? … Du freust dich nicht? Und nahmst doch zuerst so starken Anteil an dem Plan.«
Diana war zurückgesunken. Sie drückte das feine Spitzentuch gegen die Stirn. Ihre Brust bewegte sich heftig.
»Diana, was ist dir?«
»Nichts! Habe Geduld mit mir, Horace. Es wird vorübergehen. Überlasse mich heute mir selbst, ich bitte dich!«
»Schenke mir Vertrauen, Diana. Befreie dich von der Last. Sage mir, was dich quält.«
Lord Maitland näherte sich ihr und legte den Arm beruhigend um ihren Nacken.
Diana zuckte leise zusammen. Ihr Körper erzitterte.
»Lasse mich! Lasse mich! Ich bin nicht die, die …«
Klage und Herausforderung schienen zu gleicher Zeit im Klange dieser Worte zu liegen. Lord Horace zog seine Hände von ihren Schultern zurück. Betroffen sah er das jagende Wechselspiel von Licht und Schatten auf ihren Zügen. Er wagte nicht zu sprechen, wagte nicht diese Qual, in der ihre Seele sich wand, zu unterbrechen. Endlich nach langem Schweigen schien ihr der Entschluß zu reifen. Ein harter Zug legte sich um ihren Mund.
»Ich will nicht länger schweigen. Nur die Wahrheit kann mir helfen.«
Sie sprach ohne Schwäche.
»Hör mich an als mein Gatte, mein Freund … als mein Richter.« Sie wendete sich ihm zu und blickte ihn mit freien Augen an.
»Du weißt, Horace, daß meine Eltern Polen waren. Unser Nachbar war der Fürst Meszinski. Er hatte einen einzigen Sohn Raoul. Raoul war drei Jahre älter als ich. Schon als halbe Kinder galten wir als Verlobte. Die Familien wollten es so haben. Mein Vater war reich. Raoul entstammte einem alten Geschlecht und trug den Fürstentitel. Es paßte so schön zusammen, alter Adel und Reichtum. Im Grunde genommen, ein Handel, den beide Familien ausgeklügelt hatten. Ich wußte nichts davon. Raoul auch nicht. Wir hatten einander lieb, wie sich Kinder liebhaben. Wir wußten beide nichts vom Leben und von der Liebe.
Raoul wurde Offizier und lernte das Leben kennen. Während mein Herz sich gleichgeblieben war, wurden seine Empfindungen leidenschaftlicher. Noch ein Jahr, und unsere Ehe sollte geschlossen werden … Da kam der Krieg gegen die Russen und die Deutschen. Die vierte Teilung Polens war ihr Ziel. Du weißt, daß nach einem kurzen heldenmütigen Verzweiflungskampf Polen der Übermacht erlag. Als Raoul auszog, waren alle Vorbereitungen für eine schnelle Eheschließung getroffen. Wir schickten uns an, zur Trauung zu gehen, als eine starke russische Kavalleriepatrouille in den Gutshof einbrach. Die Hochzeitsgesellschaft stob auseinander. Raoul schoß den feindlichen Führer vom Pferde und entfloh.
Zur Strafe wurde unsere Besitzung verbrannt. Mein alter Vater mißhandelt, so daß er bald darauf starb. Meine Mutter floh nach Finnland, ihrer Heimat. Ich weigerte mich, ihr zu folgen, und ging als Krankenschwester zur Armee.
Als eines Tages ein neuer Transport Verwundeter in unser Lazarett eingeliefert wurde, sah ich darunter Raoul, den ich schon tot geglaubt. Er hatte eine schwere Brustwunde. Raoul selbst wußte genau, wie es um ihn stand. Nur das Bewußtsein, mich um ihn zu wissen, hielt das schwache Lebensfünkchen noch in Glut.«
Lady Diana Maitland fuhr fort: »Jetzt erkannte ich ganz, wieviel tiefer seine Liebe war als die meine. Ich hatte ihn geliebt, wie ich jeden zu lieben geglaubt hätte, den mir meine Eltern zur Heirat bestimmten.
Aber ebenso, wie meine Gegenwart seine letzten Tage leicht machte, machte sie ihm das Scheiden schwer.
Ich sah, wie er in Sehnsucht und Liebe sich nach mir verzehrte. Sein unaufhörliches Flehen drang in mich. Meine Liebe werde ihn retten; mein volles Liebesumfangen werde ihn gesunden lassen. Worte süßen Rausches drangen in mein Herz. Noch wehrte ich mich, da sah ich ihn erbleichen, als ob sein Blut zur Erde niederströme. Ich schrie auf, ich glaubte, ihn auf der Stelle sterben zu sehen. Er sah mich mit einem Blick an, in dem sich sein ganzes Empfinden widerspiegelte. Liebe, Enttäuschung, Jammer, Verzweiflung. Er griff nach seiner Brust, als wolle er den Verband abreißen. Da … da hatte ich keine Kraft mehr zum Widerstande …
Ich saß Tag für Tag an seinem Lager, bis sein Leben verlosch. Ich sah ihn hinübergehen, scheiden ohne Schmerz, voll von Glück.
In mir war alles versunken, alles verschwunden. Mir war's, als hätte ich alles nur im Traum erlebt. Nur das letzte Wort Raouls haftete in meinem Gedächtnis … ›Diana!‹ In diesem sterbenden Hauch von den bleichen Lippen hatte eine Unendlichkeit von Jubel, von Staunen und von Glück gelegen. In der Erinnerung blieb nur der Spielkamerad, der Jugendfreund.
Die Jahre und die Ereignisse sind über mich hingegangen, ohne den Teil meiner Seele zu berühren, in dem alles verschlossen war. Nur einmal wurde die Tür dazu geöffnet, erbrochen … und die Erinnerung hieran blieb …«
Ein leichter Schauer durchlief ihren Körper.
»In dem Zusammenbruch unseres Vaterlandes hatten wir alles verloren. Ich wurde Gesellschafterin bei einer schwedischen Gräfin, die meiner Mutter befreundet war. Wir lebten den größten Teil des Jahres in Paris. Auf einer Gesellschaft lernte ich einen schwedischen Ingenieur kennen. Überlegen erschien mir seine Persönlichkeit gegenüber den anderen Männern, die ich kennengelernt hatte. Alle Vorzüge des Geistes und des Körpers schienen mir in ihm vereint … Wir liebten uns … Ich war glücklich, glücklich …«
Ein leises, verlorenes Lächeln schwebte wie ein Hauch um ihre Lippen. Sie empfand eine ungewohnte Erleichterung. Diese Selbstdemütigung schien ihr Herz zu stärken, wie eine Handlung ungestümen Wagemuts. Sie lächelte … Dann verdüsterten sich ihre Züge wieder. Ihre Stimme, eben noch bewegt, wurde monoton.
»Ein Lazarettarzt war unbemerkt Zeuge von Raouls letzter Stunde gewesen. Er tauchte eines Tages in Paris auf. Er erkennt mich wieder und belästigt mich mit seinen Zudringlichkeiten. Meinem Verlobten entgeht es nicht. Er stellte ihn zur Rede. Der Mensch weist ihn an mich. Ich erzählte alles, was vorgefallen. Mein Verlobter erschießt ihn im Duell … Und ich?! … Ich erhalte am nächsten Tag seinen Ring zurück … ohne ein Wort, eine Silbe.«
Sie senkte den Kopf und schloß die Lider. Die Erinnerung an jene Vorgänge ließ sie jetzt noch zittern.
»Ich fühlte mich bis auf den Tod gedemütigt. Ich begriff nicht, wie ich noch leben sollte … vernichtet, verachtet, mitleidlos beiseite geworfen.
Hundertmal wünschte ich mir damals den Tod. An die Stelle der Liebe trat der Haß. Ich haßte so grausam, wie eine Frau nur hassen kann … Was dann kam, weißt du. Ich wurde Sängerin. Im Taumel des Lebens glaubte ich, Vergessenheit zu finden, um nur zu bald völliger Enttäuschung zu begegnen.
Ich beschloß, nur noch meiner Kunst zu leben, und widmete ihr mein ganzes Sein …
Und dann kamst du … du warst edel, warst gut zu mir. Du zeigtest mir deine Bewunderung, deine Achtung, dein Vertrauen. Du warst bereit, dein Schicksal, dein Leben mit dem meinen zu verbinden, deinen Namen einer Frau zu geben, deren Leben du kaum kanntest.«
Mit starrem Gesicht hatte Lord Maitland gelauscht.