59. Die dritte Gränzbestimmung vollends: »wie hoch Jeder sich selbst schätze, so hoch soll er von seinen Freunden geschätzt werden« steht am Niedrigsten. Denn oft ist bei manchen Menschen der Muth zu zaghaft, oder die Hoffnung auf Verbesserung der äußeren Lage zu kraftlos. Nicht darf also der Freund sich so gegen den Freund verhalten, sondern er muß vielmehr mit Anstrengung aller Kräfte es durchzusetzen suchen, daß er des Freundes gesunkenen Muth aufrichte und ihn auf bessere Hoffnungen und Gedanken bringe.
Wir müssen daher eine andere Gränze der wahren Freundschaft festsetzen, doch will ich zuerst kund thun, was Scipio am Meisten zu tadeln pflegte. Er behauptete, es lasse sich kein der Freundschaft feindlicherer Ausspruch denken, als die Aeußerung des Mannes, der gesagt habe, man müsse so lieben, als wenn man einmal hassen werde. Er könne sich auch nicht überzeugen, daß dieser Ausspruch, wie man meine, von Bias 123 herrühre, den man doch für einen der sieben Weisen gehalten habe; es sei vielmehr der Ausspruch eines unlauteren, entweder ehrsüchtigen oder Alles auf seine Macht beziehenden Menschen. Denn wie könne man wol Jemandem befreundet sein, dessen Feind zu werden er für möglich hält? Ja, er müßte sogar verlangen und wünschen, daß der Freund recht oft fehle, damit er ihm desto mehr Veranlassungen zum Tadeln gäbe, sowie er hinwiederum wegen der edlen Handlungen und wegen des Glückes seiner Freunde nothwendig Bekümmerniß, Verdruß und Neid empfinden müßte.
60. Daher ist diese Lehre fürwahr, von wem sie auch herrühren mag, geeignet die Freundschaft zu vernichten. Vielmehr hätte man die Lehre geben müssen, man solle bei Stiftung von Freundschaften eine solche Sorgfalt anwenden, daß man nie Einen zu lieben beginne, den man einmal hassen könne. Ja, wenn man sogar in seiner Wahl minder glücklich gewesen sei, so müsse man, meinte Scipio, dieses vielmehr ertragen, als an die Zeit eines feindlichen Verhältnisses denken.
XVII. 61. Man muß also meines Erachtens folgende Bestimmungen beobachten. Wenn der Charakter der Freunde fehlerfrei ist, so muß unter ihnen Gemeinschaft aller Angelegenheiten, Entwürfe und Wünsche ohne irgend eine Ausnahme stattfinden, so daß man sogar, wenn einmal der Fall einträte, daß minder gerechte Wünsche der Freunde unterstützt werden müßten, wobei ihr körperliches und bürgerliches Dasein oder ihr guter Ruf auf dem Spiele steht, die Bahn des Rechtes verlassen müßte, nur darf es nicht den höchsten Grad der Schande zur Folge haben 124. Denn bis zu einem gewissen Punkte kann man der Freundschaft Nachsicht gewähren. Doch ist hierbei einerseits der gute Ruf keineswegs zu vernachlässigen; andererseits darf man aber auch das Wohlwollen seiner Mitbürger als kein geringes Schutzmittel staatsmännischer Thätigkeit ansehen, das jedoch durch Schmeicheleien und Liebedienerei sich zu verschaffen schimpflich ist; die Tugend aber, welche Liebe zur Folge hat, darf durchaus nicht zurückgewiesen werden.
62. Doch – oft komme ich auf Scipio zurück, dessen ganzes Gespräch 125 von der Freundschaft handelte, – er beklagte sich 126, daß die Menschen bei allen Angelegenheiten größere Sorgfalt bewiesen: Jeder könne zum Beispiel angeben, wie viele Ziegen und Schafe er habe, aber wie viele Freunde er habe, könne er nicht angeben, und bei Anschaffung dieser Dinge wendeten sie Sorgfalt an, bei der Wahl der Freunde hingegen seien sie nachlässig und hätten keine bestimmten Merkmale, nach denen sie diejenigen, welche zur Freundschaft geeignet seien, beurtheilen könnten.
Man muß also Männer von festem, standhaftem und beständigem Charakter auswählen, an denen freilich großer Mangel ist, und ohne vorhergegangene Prüfung ist dieß allerdings schwer zu beurtheilen; die Prüfung läßt sich aber erst in der Freundschaft selbst anstellen. Auf diese Weise eilt die Freundschaft dem Urtheile vor und benimmt die Möglichkeit der Prüfung.
63. Die Klugheit also gebietet den ungestümen Drang des Wohlwollens wie einen raschen Lauf zu hemmen, um so von der Freundschaft 127 wie von geprüften Rossen Gebrauch zu machen, das beißt, nachdem man den Charakter der Freunde einigermaßen auf die Probe gestellt hat. An Einigen sieht man oft, wenn es sich um eine kleine Geldsumme handelt, wie leichtfertig sie sind; Andere aber, die eine kleine Geldsumme nicht rühren konnte, lernt man bei einer großen kennen. Finden sich aber wirklich Einige, die Geld der Freundschaft vorzuziehen für schmutzig halten; wo werden wir diejenigen finden, welche Ehrenämter, Staatswürden, Befehlshaberstellen, Staatsgewalten und Macht der Freundschaft nicht vorziehen, so daß sie, wenn man ihnen auf der einen Seite diese Güter, auf der anderen die Gerechtsame der Freundschaft vorlegte, nicht viel lieber jene vorzögen? Denn zu schwach ist unsere Natur, um die Macht zu verachten, und selbst wenn man zu dieser mit Vernachlässigung der Freundschaft gelangt ist, so glaubt man, es werde in Vergessenheit gerathen, weil man die Freundschaft nicht ohne wichtigen Grund vernachlässigt habe. 64. Daher findet man wahre Freundschaften sehr schwer unter Männern, die Ehrenämter bekleiden und sich den Staatsgeschäften widmen 128. Denn wo träfe man einen Mann, der die Ehre des Freundes der seinigen vorzöge?
Ferner, wie drückend, wie mißlich, um hiervon nicht weiter zu sprechen, erscheint den Meisten die Theilnahme an Unglücksfällen. Es ist nicht leicht Menschen zu finden, die sich dazu verstehen. Und doch sagt Ennius 129 mit Recht:
Unsicheres Glück läßt sehen uns den sicheren Freund 130
’Εν τοι̃ς κακοι̃ς γὰρ αγαθοι σαφέστατοι
Φίλοι.
.
Gleichwol werden die meisten Menschen in den beiden Fälle des Leichtsinns und der Schwäche überführt, entweder wenn sie den Freund in ihrem Glücke verachten oder wenn sie ihn in seinem Unglücke verlassen.
Wer sich also in beiden Fällen gesetzt, standhaft un beharrlich in der Freundschaft beweist, den müssen wir für einen hoch seltenen Menschen und, ich möchte sagen, für ein göttliches Wesen erklären.
[XVIII.] 65. Die Stütze dieser Beharrlichkeit und Standhaftigkeit aber die wir in der Freundschaft suchen, ist die Treue. 131 Denn Nichts ist beharrlich, was untreu ist. Außerdem muß man einen aufrichtigen, umgänglichen und gleichgesinnten Mann, das heißt einen solchen, auf welchen die nämlichen Gegenstände einen Eindruck machen, auswählen: lauter Eigenschaften, welche wesentliche Bestandtheile der Treue sind. Denn so wenig ein Gemüth voll Falten und Krümmungen treu sein kann, ebenso wenig kann der, auf den nicht die nämlichen Gegenstände einen Eindruck machen, und der nicht von Natur mit uns übereinstimmt, treu oder beharrlich sein. Dazu gehört auch noch, daß er keine Freude daran habe Beschuldigungen vorzubringen oder vorgebrachten Glauben zu schenken: was alles die Beständigkeit bedingt, mit deren Darstellung ich mich schon eine Weile beschäftige. So bestätigt sich die Wahrheit der zu Anfang 132 ausgesprochenen Behauptung: die Freundschaft könne nur unter Guten stattfinden. Es kommt nämlich einem guten Manne, den man auch einen Weisen nennen darf 133, zu folgende zwei Grundsätze in der Freundschaft festzuhalten: für's Erste, daß keine Verstellung und keine Heuchelei stattfinde; denn sogar offen hassen verräth mehr Edelmuth als seine Gesinnung unter erheuchelter Miene verbergen; sodann soll man nicht allein die von Jemandem vorgebrachten Beschuldigungen zurückweisen, sondern auch selbst nicht argwöhnisch sein, indem man immer glaubt, der Freund habe irgend eine Rücksicht gegen uns verletzt.
66. Dazu muß noch eine gewisse Anmuth