Fannius.
16. Das, mein Lälius, ist unausbleiblich. Doch da du einmal der Freundschaft gedacht hast, und wir Muße haben, so würdest du mir – ich hoffe, auch dem Scävola – einen großen Gefallen erweisen, wenn du uns, wie du bei anderen Fragen, die man dir vorlegt, zu thun pflegst, so auch deine Ansicht über die Freundschaft entwickeltest, ihr Wesen auseinandersetztest und Vorschriften über sie gäbest.
Scävola.
In der That auch mir, und als ich eben diese Bitte an dich richten wollte, kam mir Fannius zuvor. Deßhalb wirst du uns beiden einen sehr großen Gefallen erweisen.
Lälius.
V. 17. Ich würde wahrlich keine Umstände machen, wenn ich Selbstvertrauen genug besäße; denn einerseits ist der Gegenstand an sich vortrefflich, andererseits haben wir, wie Fannius bemerkte, Muße. Doch wer bin ich, und welche Geschicklichkeit besitze ich? Das ist die Gewohnheit der Philosophen von Fach, namentlich der Griechischen 62, daß man ihnen eine Frage vorlegt, über die sie selbst ohne alle Vorbereitung einen gelehrten Vortrag halten. Es ist ein schwieriges Geschäft und erfordert keine geringe Uebung. Darum rathe ich euch die wissenschaftliche Erörterung, die sich über die Freundschaft vortragen läßt, lieber bei Fachgelehrten zu suchen; ich kann euch nur auffordern der Freundschaft vor allen irdischen Gütern den Vorzug zu geben. Denn Nichts ist so naturgemäß, so unseren Verhältnissen im Glücke und im Unglücke angemessen.
18. Aber zunächst bin ich der Ansicht, daß nur unter Guten Freundschaft bestehen könne; doch nehme ich es damit nicht in so strengem Sinne, wie die Philosophen, die dergleichen Fragen mit größerer Schärfe der Dialektik behandeln 63, vielleicht richtig, aber zu wenig mit Rücksicht auf das Bedürfniß des gewöhnlichen Lebens. Sie behaupten nämlich, kein Mensch sei gut außer dem Weisen. Dem sei immerhin so; aber das, was sie unter Weisheit verstehen, hat bis jetzt noch kein Sterblicher zu erreichen gewußt. Wir hingegen müssen uns an das halten, was in der Erfahrung und im gewöhnlichen Leben begründet ist, und nicht an Gedankenbilder oder fromme Wünsche. Nie werde ich behaupten, Gajus Fabricius 64, Manius Curius und Tiberius Corucanius 65, die unsere Altvordern für weise Männer erklärten, seien nach dem Maßstabe dieser Philosophen Weise gewesen. Darum mögen sie diesen mißfälligen 66 und unverständlichen Namen der Weisheit für sich behalten, wohl aber gestatten, daß die Genannten gute Männer waren. Aber sie werden auch dieses nicht thun, sie werden behaupten, das könne nur dem Weisen zugestanden werden.
19. Laßt uns also mit schlichtem Hausverstande 67 verfahren. Die Männer, die in ihrem Benehmen im ganzen Leben Treue, Rechtschaffenheit, Billigkeit und Edelmuth bewähren und frei von aller Leidenschaft, Zügellosigkeit oder Frechheit sind, vielmehr große Standhaftigkeit besitzen, wie die so eben Genannten, diese wollen wir des Namens guter Männer, wofür sie gehalten worden sind, für würdig halten, weil sie, so viel es menschliche Kräfte erlauben, der Natur, der besten Führerin zu einem tugendhaften Leben, folgen.
Mit der Bestimmung nämlich – das glaube ich deutlich einzusehen – sind wir geboren, daß zwischen uns allen eine gesellschaftliche Verbindung bestehe, und zwar eine um so innigere, je näher uns Jemand angeht 68. Darum sind uns unsere Mitbürger wichtiger als Ausländer, Verwandte wichtiger als Fremde; denn mit jenen hat die Natur selbst Freundschaft gestiftet, aber sie hat nicht genug Festigkeit. Darin nämlich hat die Freundschaft einen Vorzug vor der Verwandtschaft, daß das Wohlwollen aus der Verwandtschaft hinweggenommen werden kann, aus der Freundschaft aber nicht. Denn durch Wegnahme des Wohlwollens wird auch der Name der Freundschaft hinweggenommen, der der Verwandtschaft aber bleibt.
20. Wie groß aber die Bedeutung der Freundschaft sei, läßt sich besonders daraus erkennen, daß aus der unbegränzten gesellschaftlichen Verbindung des Menschengeschlechts, die schon die Natur gestiftet hat, dieses Verhältniß sich so eng zusammenzieht und beschränkt, daß sich das ganze Band der Liebe nur um zwei oder wenige Personen schlingt.
VI. Die Freundschaft ist nämlich nichts Anderes als die vollkommenste Uebereinstimmung in allen göttlichen und menschlichen Dingen, verbunden mit Wohlwollen und Liebe, und es dürfte vielleicht mit Ausnahme der Weisheit dem Menschen nichts Besseres von den unsterblichen Göttern gegeben sein als sie. Einige ziehen Reichthümer vor, Andere Gesundheit, Andere Macht, Andere Ehrenämter, Viele sogar Sinnenlust. Dieses Letztere freilich kommt nur unvernünftigen Thieren zu; jene ersteren Güter aber sind hinfällig und unzuverlässig und beruhen nicht sowol auf unseren Entschließungen als auf der Laune des Glückes. Wer aber das höchste Gut in die Tugend setzt 69, hat allerdings eine erhabene Ansicht; allein eben diese Tugend ist es, welche die Freundschaft erzeugt und erhält, und ohne Tugend kann die Freundschaft auf keine Weise bestehen.
21. Nun wollen wir den Begriff der Tugend nach dem Herkommen unseres Lebens und unserem Sprachgebrauche nehmen, ohne an denselben in der Weise gewisser Philosophen 70 den Maßstab hochtrabender Redensarten zu legen, und wollen daher als gute Männer die gelten lassen, die man dafür hält, einen Paullus 71, Cato 72, Gallus 73, Scipio 74, Philus 75. Mit solchen Männern begnügt sich das gewöhnliche Leben; andere hingegen, die sich überhaupt nirgends ausfindig machen lassen, wollen wir übergehen.
22. Unter solchen Männern also gewährt die Freundschaft so viel Vortheile, als ich kaum auszusprechen vermag. Zuvörderst, wie kann das Leben lebenswerth 76 sein, um mit Ennius zu reden, das nicht im gegenseitigen Wohlwollen des Freundes Ruhe und Erquickung findet? Was ist süßer als einen Freund zu haben, mit dem man Alles so reden darf wie mit sich selbst? Welcher Genuß würde in glücklichen Tagen so groß sein, wenn wir nicht einen Freund hätten, der sich ebenso darüber freute als wir selbst 77? Mißgeschick aber zu ertragen würde schwer halten ohne einen Freund, der es noch tiefer empfände als wir. Endlich sind die übrigen Güter, welche Gegenstände unseres Strebens sind, fast nur einzelnen Zwecken dienlich: Reichthum zur Benutzung; Macht, um Achtung zu erlangen; Ehrenämter, um zur Anerkennung zu gelangen; sinnliche Genüsse, um sich zu vergnügen; Gesundheit, um sich frei von Schmerz zu fühlen und die körperlichen Verrichtungen zu besorgen. Die Freundschaft hingegen verbreitet sich über die meisten Lebensverhältnisse. Wohin man sich nur wenden mag, da steht sie zu Diensten, von keinem Orte ist sie ausgeschlossen, niemals ist sie ungelegen, niemals lästig. Daher haben wir nicht das Wasser, nicht das