Kap. XXXII. (§104.) Ich komme indess auf mein Vorhaben zurück; nur weil ich über den Schmerz sprach, bin ich auf diesen Brief gekommen; jetzt möchte ich das Ergebniss des Ganzen dahin ziehn: Wer im höchsten Uebel ist, ist während dieser Zeit nicht glücklich; aber der Weise ist immer glücklich, obgleich er mitunter Schmerzen hat; deshalb kann der Schmerz nicht das höchste Uebel sein. Aber was will es denn heissen, wenn Ihr sagt, das vergangene Gute verschwände nicht aus der Erinnerung des Weisen, und der vergangenen Uebel solle man sich nicht erinnern? Ist es denn erstlich in unsrer Gewalt, welcher Sache wir uns erinnern wollen? Wenigstens sagte Themistokles, als Simonides oder ein Anderer ihm die Gedächtnisskunst zu lehren anbot: »Lieber wäre mir die Kunst zu vergessen; denn erinnern thue ich mich auch dessen, was ich nicht mag, aber vergessen kann ich nicht, was ich mag.« (§ 105.) Epikur war zwar ein grosser Geist, aber die Sache verhält sich doch so und nur ein übertrieben herrischer Philosoph kann die Erinnerung verbieten wollen. Bedenke, ob dergleichen Gebote nicht Euren Manlianischen gleichen oder noch schlimmer sind, wenn Ihr das Unmögliche verlangt. Und was soll geschehen, wenn die Erinnerung an vergangene Uebel unangenehm ist? Manches Sprüchwort ist wahrer als Eure Lehrsätze; schon das Volk sagt: »Ueberstandene Mühen sind angenehm« und Euripides hat Recht, dessen Vers, da Ihr ihn Alle griechisch kennt, ich hier in unserer Sprache wiedergebe:
»Süss ist die Erinnerung vergangener Mühen.«
Doch kommen wir auf das vergangene Gute zurück. Wenn Ihr darunter das verständet, was dem Gajus Marius zu Gebote stand, der verbannt, elend, im Sumpfe steckend, die Schmerzen sich durch die Erinnerung an seine Siegeszeichen linderte, so würde ich es anhören und durchaus billigen; denn das glückliche Leben des Weisen könnte nicht beschlossen und zu Ende geführt werden, wenn er nicht des Bedeutenderen, was er gedacht und vollführt hat, eingedenk bliebe. (§ 106.) Allein Euch soll die Erinnerung an genossene Lust, und zwar an körperlich genossene Lust, das Leben glücklich machen; denn wenn es noch andere Lust gäbe, so würde Euer Ausspruch falsch sein, dass alle Lust der Seele nur aus der Verbindung mit dem Körper hervorgehe. Wenn auch die vergangene körperliche Lust erfreute, so wüsste ich nicht, wie Aristoteles den Ausspruch des Sardanapal so verspotten konnte, in welchem jener König Syriens sich rühmt, alle Lust der Sinne mit sich ins Grab genommen zu haben. »Denn«, sagt Aristoteles. »was er nicht einmal im Leben langer fühlen konnte, als der Genuss wahrte, wie kann dies dem Todten noch verbleiben?« Die Lust des Körpers ist im Fluss und selbst die grösste fliesst davon und lässt oft mehr Grund zurück, sie zu bereuen, als ihrer zu gedenken. Deshalb war Africanus glücklicher, indem er zu seinem Vaterlande sprach:
»Höre auf, Rom. Deine Feinde...«
und dann so herrlich zufügte:
»Denn meine Mühen haben Dir Schutzwehren geschaffen.«
Dieser Mann freut sich der vergangenen Mühen; Du aber willst, man solle sich der vergangenen Lust erfreuen; dieser Mann ruft sich das zurück, was er niemals auf den Körper bezogen hatte, Du aber bleibst am Körper kleben.
Kap. XXXIII. (§ 107.) Aber der Satz selbst, wonach, wie Ihr sagt, alle Lust und aller Schmerz der Seele zur Lust und zum Schmerz des Körpers gehört, wie ist der aufrecht zu erhalten? Also ergötzt Dich niemals, ich weiss, mit wem ich spreche; Dich also, Torquatus, ergötzt nichts an sich selbst ? Ich lasse hier die Ehre, die Rechtschaffenheit, selbst die Schönheit der Tagenden, von denen ich früher gesprochen habe, als das leichter Begreifliche, bei Seite; ein Gedicht, eine Rede, die Du niederschreibst oder liest, die Geschichte aller Thaten und aller Orte, eine Bildsäule, ein Gemälde, eine anmuthige Gegend, Spiele, Jagden, das Landhaus Lucull's – ich nenne es nicht Dein, denn sonst hättest Du eine Ausrede und könntest es auf den Körper beziehen – also Alles, was ich hier genannt, beziehst Du das auf den Körper? oder giebt es hier Etwas, was Dich um sein selbst willen ergötzt? Du musst entweder hartnäckig darauf bestehen, dass Alles, was ich jetzt genannt, sich auf den Körper beziehe, oder wenn Du es nicht kannst, so musst Du die ganze Lust Epikur's im Stich lassen. (§ 108) Wenn Du aber geltend gemacht hast, dass die Lust und der Schmerz der Seele die des Körpers übertreffe, weil die Seele dreier Zeiten theilhaftig sei, während der Körper nur das Gegenwärtige empfinde, wie kann dies beweisen, dass Der, welcher sich meinetwegen erfreut, mehr Freude als ich selbst empfinde? Die Lust der Seele soll aus der Lust des Körpers entspringen und jene grösser als diese sein. Danach wäre also Der, welcher Glück wünscht, glücklicher als Der, an den der Wunsch gerichtet wird. Während Ihr den Weisen dadurch glücklich machen wollt, dass er die höchste Seelenlust geniesse, die allen Stücken grösser sei als Körperlust, bemerkt Ihr nicht, was Euch da begegnet; denn er leidet dann auch an Schmerzen der Seele, die in allen Stücken grösser sind, als die des Körpers. Deshalb muss nothwendig Euer Weiser, der doch nach Euch