Kap. XXXIV. (§ 111.) Wenn Alles nur auf die Lust hinausläuft so werden wir weit von den Thieren übertroffen, denn die Erde selbst giebt ihnen mancherlei und reiche Weide ohne Arbeit, während wir kaum, ja nicht einmal kaum mit vieler Arbeit das erreichen können. Aber ich kann durchaus nicht annehmen, dass das höchste Gut für die Thiere dasselbe sei, wie für die Menschen. Wozu bedürfen wir so vieler Vorbereitungen, am die höheren Wissenschaften und Künste zu erwerben; wozu eine Verbindung der erhabensten Bestrebungen; wozu ein so grosses Gefolge von Tugenden, wenn dies Alles nur zur Beschaffung der Lust dienen sollte? (§ 112.) Als Xerxes mit einer grossen Flotte und einem mächtigen Heere von Reitern und Fussvolk den Hellespont überbrückte und den Atho durchgrub, auf dem Meere gewandelt und die Erde beschifft hatte, antwortete er auf die Frage, weshalb er mit solcher Macht in Griechenland eingebrochen sei und weshalb er so viele Truppen gesammelt und einen so grossen Krieg begonnen habe: er habe Honig von Hymettus holen wollen; und so zeigte es sich klar, dass er ohne Ursache so grosse Rüstungen unternommen hatte. Ebenso mussten wir, wenn wir sagten, dass der Weise, mit vielen und den bedeutendsten Künsten und Tagenden ausgerüstet und geschmückt, nicht, um wie jener Xerxes, die Meere zu Fuss zu durchwandern und die Berge mit Flotten zu durchschiffen, sondern um in seinem Geiste den ganzen Himmel und die ganze Erde mitsammt den Meeren zu befassen, nur nach der Lust verlangt, Euch sagen, nur des Honigs wegen habe er so Grosses vorbereitet. (§ 113.) Glaube mir, Torquatus, wir sind zu Höherem und Erhabenerem geboren, und dies ergiebt sich nicht blos aus den Kräften der Seele, welche ein Gedächtniss für Unzähliges hat, was bei Dir ins Schrankenlose geht, welche das Kommende ahnt und so von der göttlichen Voraussicht sich wenig unterscheidet, welcher die Scham einwohnt als Mässigerin der Begierden, und für die menschliche Gesellschaft die treue Einhaltung der Gerechtigkeit, für die Vollbringung der Arbeiten und den Eintritt in die Gefahren eine feste und beharrliche Verachtung des Schmerzes und Todes. Das Alles ist in unsrer Seele; aber betrachte daneben auch diese Glieder und Sinne, welche, wie die übrigen Theile Deines Körpers, nicht blos als Begleiter der Tugend, sondern auch als Diener derselben sich zeigen. (§ 114.) Wenn schon am Körper Vieles, wie die Kraft, die Gesundheit, die Behendigkeit, die Schönheit, über der Lust steht, was soll man da von den Fähigkeiten der Seele halten, in denen nach den gelehrtesten Alten etwas Himmlisches und Göttliches wohnt? Bestände in der Lust das höchste Gust, wie Ihr sagt, so wäre es das. Wünschenswertheste, ohne Unterlass, Tag und Nacht in höchster Lust zuzubringen, bei der alle Sinne erregt und gleichsam mit aller Süssigkeit erfüllt wären. Aber wer verdiente den Namen eines Menschen, der nur einen vollen Tag in dieser Art von Lust verleben möchte? Nur die Cyrenaiker treten auch hier nicht zurück; Ihr seid zwar verschämter, aber jene dafür folgerichtiger. (§ 115.) Doch wir brauchen diese höhere Wissenschaft und Kunst nicht zu betrachten, bei deren Mangel man in früheren Zeiten als ungebildet galt; ich frage, glaubst Du, dass, ich will nicht sagen Homer, Archilochus, Pindar, sondern Phidias, Polyklet, Zeuxis mit ihrer Kraft nur der Lust gedient haben? Dann hätte also ein solcher Künstler in Bezug auf die Schönheit der Gestalten sich mehr vorgesetzt, als der ausgezeichnetste Bürger für die Schönheit seiner Thaten? Die Ursache dieses grossen so weit verbreiteten Irrthums liegt nur darin, dass Der, welcher die Lust für das höchste Gut erklärt, nicht mit dem Theile seiner Seele, der die Vernunft und die Ueberlegung enthält, sondern mit der Begierde, also mit dem leichtfertigsten Theile seiner Seele zu Rathe geht. Denn ich frage Dich, wie die Götter, wenn es deren giebt, was ja auch Ihr annehmt, glücklich sein können, obgleich sie die Lust des Körpers nicht empfinden, und weshalb, wenn sie ohne diese Art der Lust glücklich sein können, Ihr bei dem Weisen nicht eine ähnliche Wirksamkeit der Seele zulassen wollt?
Kap. XXXV. (§ 116.) Lies, mein Torquatus, die Lobreden nicht der von Homer gepriesenen Helden, nicht die des Cyrus, des Agesilaus, oder des Aristides, oder des Themistocles, nicht die von Philipp und von Alexander; lies die Lobreden auf die Unsrigen, die auf Deine Familie, und Du wirst Niemand darin gelobt finden, weil er ein geschickter Meister in Bereitung der Lust gewesen. Auch die Aufschriften der Denkmäler weisen nicht darauf hin, wie z.B. die am Thore: »Alle Völker stimmen zu, dass dieser Mann der Erste des Volkes gewesen sei.« (§ 117.) Sollten die Völker deshalb von dem Collatinus anerkannt haben, dass er der Erste seines Landes gewesen, weil er in Bereitung der Lost der Vorzüglichste gewesen? Sollte man bei Jünglingen gute Anlagen annehmen und seine Hoffnung auf sie setzen, weil man erwartet, dass sie nur für ihren Vortheil sorgen und nur das thun werden, was ihnen nützt? Sieht nicht Jeder, wel che Verwirrung aller Verhältnisse, welche Unordnung die Folge davon sein würde? Das Wohlthun, die Dankbarkeit, die Bande der Eintracht wären dann aufgehoben; denn wenn Du nur Deinetwegen etwas leihest, so ist dies keine Wohlthat, sondern Wucher, und man wird Dem keinen Dank schulden, der nur zu seinem Vortheil geliehen hat. Alle jene grosse Tugenden müssen darnieder liegen, wenn die Wollust herrscht. Auch viele Schlechtigkeiten würden, wenn nicht von Natur die Rechtlichkeit die stärkere wäre, bei den Weisen hervortreten und es würde schwer sein, das Gegentheil zu beweisen. (§ 118.) Und um nicht noch mehr zu sagen, denn es würde kein Ende nehmen, die wahrhafte und lobenswerthe Tugend muss nothwendig der Lust den Eintritt verschliessen. Erwarte den Beweis dessen jetzt nicht von mir; schau selbst in Dein Inneres, durchforsche es nach allen Richtungen und frage Dich selbst, ob Du lieber willst ohne Unterlass jene schlechten Lüste in der oft von Dir erwähnten Ruhe geniessen und Deine ganze Zeit ohne Schmerz hinbringen, selbst wenn Du auch frei von jener Furcht vor Schmerzen wärst, die Ihr hinzuzufügen pflegt, obgleich es unmöglich ist, oder ob Du vorziehst, Dich um alle Völker in bester Weise verdient zu machen, den Armen Hilfe und Trost zu bringen und selbst die Drangsale des Hercules zu erleiden? Denn so nannten unsre Vorfahren die Arbeiten, wel che nicht gemieden werden sollen, selbst bei einem Gott mit dem traurigen Worte: Drangsal. (§ 119.) Ich würde eine Antwort von Dir verlangen, ja Dich dazu zwingen, wenn ich nicht fürchtete. Du möchtest auch vom Hercules behauptet, er habe seine mit der grössten Mühe für das Heil der Völker vollbrachten Thaten nur der Lust wegen verrichtet. – Als ich so gesprochen hatte, sagte Torquatus: Ich weiss, an wen ich mich wenden werde. Wenn ich auch selbst etwas dagegen vermöchte, so will ich doch Freunde suchen, die dazu gerüsteter sind. – Ich glaube, sagte ich. Du meinst unsre Freunde, den vortrefflichen und gelehrten Siro und Philodemus. – Ganz recht, antwortete er. – Nun meinetwegen, sagte ich; aber wäre es nicht billig, des Triarius Urtheil über unsern Streit zu hören? – Ich verwerfe diesen als parteiisch, sagte Torquatus lachend, wenigstens ist er es in dieser Sache; Du hast uns noch gelind behandelt, aber dieser geisselt uns in stoischer Weise. – Da sagte Triarius: Wenigstens werde ich es später kühner thun; denn was ich gehört habe, wird mir zu Gebote stehn, und ich werde Dich nicht eher angreifen, bis ich Dich, von den genannten Männern ausgerüstet, wiedersehe.
Damit beschlossen wir unsern Spaziergang und unsre Unterredung.
Drittes Buch
Kap. I. (§ 1.) Die Lust, mein Brutus, würde, wenn sie für sich allein spräche und keinen zu hartnäckigen Schutzpatron hätte, nachdem sie im vorgehenden Buche widerlegt worden, der Würde der Tugend wohl weichen. Denn sie wäre unverschämt, wenn sie noch länger die Tugend bekämpfen oder das Angenehme über das Sittliche stellen und behaupten wollte, dass die Lust des Körpers und die daraus entspringende Fröhlichkeit mehr werth sei, als