Verhehlen wir uns indessen nicht, daß diese unvergleichliche Freundin uns zum Theil genommen sein wird.
Für sie beginnt nun eine neue Lebensordnung; sie hat neue Verbindlichkeiten, hat neue Pflichten auf sich genommen; und ihr Herz, das nur uns gehörte, muß sich jetzt anderen Regungen hingeben, denen die Freundschaft den ersten Rang einräumt. Und noch mehr, mein Freund, wir müssen auch unsererseits gewissenhafter sein in Bezug auf die Freundschaftsbeweise, die wir von ihr in Anspruch nehmen; wir dürfen nicht mehr darauf allein sehen, wie lieb sie uns hat, und wie sehr wir ihrer bedürfen, sondern auf das, was sich für ihren neuen Stand schickt und was ihrem Manne angenehm sein oder mißfallen könnte. Wir haben nicht erst nöthig, zu untersuchen, was wohl in solchem Falle die Tugend erheischte, die Gesetze der Freundschaft allein sind ausreichend. Würde Der verdienen einen Freund zu haben, der fähig wäre, ihn um eigenen Vortheils willen in Unannehmlichkeiten zu verwickeln? Als sie Mädchen war, war sie frei, hatte nur sich selbst wegen ihrer Schritte Rechenschaft zu geben, und ihre gute Absicht war hinreichend, sie in ihren eigenen Augen zu rechtfertigen, Sie betrachtete uns wie zwei für einander bestimmte Gatten, und indem ihr gefühlvolles und reines Herz die keuscheste Schamhaftigkeit für ihren Theil mit dem zärtlichsten Mitgefühl für ihre strafbare Freundin verband, deckte sie meine Schuld zu, ohne sie zu theilen. Aber jetzt ist Alles anders geworden; sie ist einem Andern für ihr Betragen Rechenschaft schuldig; sie hat nicht nur ihre Treue angelobt, sie hat sich ihrer Freiheit entäußert. Mit der Ehre zweier Personen zugleich betraut, ist es für sie nicht genug, ehrbar, sie muß auch in Ehren sein; nicht genug, nichts zu thun als was Recht ist, sie muß auch nichts thun, was Mißbilligung finden könnte. Eine tugendhafte Frau muß nicht nur die Achtung ihres Mannes verdienen, sondern sie sich auch gewinnen; wenn er sie tadelt, ist sie tadelnswerth, und, wäre sie auch unschuldig, sie hat schon Unrecht, sobald sie in Verdacht fällt, denn selbst den Schein zu wahren, gehört zu ihren Pflichten.
Ich weiß nicht gewiß, ob alle diese Gründe gut sind, du wirst darüber urtheilen; aber ein gewisses inneres Gefühl sagt mir, daß es nicht gut ist, wenn meine Cousine noch ferner meine Vertraute bleibt, und ebensowenig, daß sie es mir zuerst sage. Ich habe oft in meinen Vernunftschlüssen fehlgegriffen, nie haben mich die inneren Regungen, welche mich zu ihnen führten, mißleitet, und daher habe ich mehr Vertrauen zu meinem Instinkt als zu meiner Vernunft.
Diesem Grundsatze zufolge habe ich denn schon einen Vorwand ergriffen, deine Briefe von ihr zurückzufordern, welche ich, aus Furcht vor Entdeckung, ihr in Verwahrung gegeben hatte. Sie gab sie mir, und mit beklommenem Herzen, wie mein eigenes mir wohl verrieth, aber ich fand darin die Bestätigung, daß ich gethan hatte, was sich gehörte. Wir haben uns mit keinem Worte verständigt, aber unsere Blicke sagten Alles; sie umarmte mich weinend; wir sprachen kein Wort und fühlten, wie wenig die zärtliche Sprache der Freundschaft der Worte bedarf.
Wegen einer Adresse an der Stelle der ihrigen hatte ich zuerst an Fanchon Anet gedacht und es wäre allerdings der sicherste Weg gewesen, den wir wählen konnten; aber wenn diese junge Frau von geringerem Stande ist als meine Cousine, ist das ein Grund, im Punkte der Ehrbarkeit weniger Rücksicht für sie zu haben? Ist nicht im Gegentheil zu fürchten, daß bei minder gehobenem Gefühle mein Beispiel ihr gefährlicher werde, daß was für die Eine nur das Opfer einer erhabenen Freundschaft war, der Anderen zu einem Anfang der Verderbniß werde, und daß ich durch Mißbrauch ihrer Erkenntlichkeit die Tugend selber zwinge dem Laster zum Werkzeuge zu dienen? Ach, ist es nicht schon genug für mich, strafbar zu sein? Soll ich noch Mitschuldige machen und mein Unrecht mit der Last fremden Unrechts vergrößern? Nein, denken wir nicht daran, mein Freund! ich habe ein anderes Mittel ausgedacht, das allerdings weniger sicher, aber doch weniger verwerflich ist, da es Niemanden compromittirt und uns keinen Vertrauten auflädt; nämlich, daß du mir unter einem aus der Luft gegriffenen Namen schreibst, wie z. B, Herrn Du Bosquet [Du Bosquet „Vom Gebüsch“, eine Anspielung auf die Kußgeschichte im Bosket. S. Abth. I. Br. 14. D. Ueb.] und darüber ein Couvert an Regianino machst, dem ich die nöthige Anweisung geben werde. So wird Regianino selber um nichts wissen, höchstens Vermuthungen hegen, die er nicht weiter zu verfolgen wagen wird, denn Milord Eduard, von dem sein Glück abhängt, hat mir für ihn gut gesagt. Während unsere Correspondenz auf diesem Wege fortgeht, will ich sehen, ob wir wieder jenen, der uns während deiner Reise nach dem Wallis diente, oder irgend einen andern einschlagen können, der dauernder und sicherer ist.
Wenn ich nicht den Zustand deines Herzens kennte, würde ich an der Verstimmung, die in deinen Berichten herrscht, merken, daß das Leben, welches du führst, nicht nach deinem Geschmacke ist. Die Briefe des Herrn von Muralt, über die man sich in Frankreich beschwert hat, waren weniger scharf als die deinigen; wie ein Kind, das ärgerlich auf seine Lehrmeister ist, rächst du dich dafür, daß du gezwungen bist die Welt zu studiren an den ersten die sie dich kennen lehren. Was mich am meisten Wunder nimmt, ist, daß dich gerade das zuerst aufbringt, was sonst alle Fremden einnimmt, nämlich das freundliche Entgegenkommen der Franzosen und im Allgemeinen ihr geselliger Ton, wiewohl du dich nach deinem eigenen Geständnisse des Besten in dieser Hinsicht zu rühmen hast. Ich habe die Unterscheidung nicht vergessen, die du zwischen Paris im besonderen und der großen Stadt überhaupt machtest, aber während du ungewiß bist, was hierhin und was dorthin gehöre, sehe ich doch, daß du deine Kritik auf alle Fälle machst, ehe du noch weißt, ob es böse Nachrede oder richtige Beobachtung ist. Wie dem nun sei, ich liebe die französische Nation und du erzeigst mir nichts Angenehmes, wenn du schlecht von ihr sprichst. Ich verdanke den guten Büchern, die uns von ihr zukommen, das Meiste von dem, was wir mit einander gelernt haben [Vgl. „Bekenntn.“ Th. 3. S. 12 bis 14. D. Ueb.]. Wenn unser Land nicht mehr barbarisch ist, wem sind wir den Dank dafür schuldig? Die beiden größten, die beiden tugendhaftesten Menschen der Neuzeit, Catinat, Fénelon, waren beide Franzosen; Heinrich IV. war es, der König, den ich liebe, der gute König. Wenn Frankreich nicht das Land der Freien ist, so ist es doch das Land der Wahren, und die eine Freiheit ist so viel werth als die andere in den Augen des Weisen. Gastfrei und hülfreich dem Fremden, lassen ihm die Franzosen selbst die Wahrheit hingehen, welche sie verletzt, und man würde in London gesteinigt werden, wenn man dort halb so viel Böses von den Engländern sagte, als die Franzosen von sich in Paris sagen lassen. Mein Vater, der sein Leben in Frankreich zugebracht hat, spricht nur mit Entzücken von diesem guten, liebenswürdigen Volke. Wenn er dort im Dienste des Monarchen sein Blut vergossen hat, so hat der Fürst ihn nach seiner Entlassung nicht vergessen und beehrt ihn noch mit seinen Wohlthaten; so sehe ich mich betheiligt bei dem Ruhme eines Landes an, in welchem mein Vater den seinigen gefunden hat. Mein Freund, wenn doch jedes Volk seine guten und seine schlechten Eigenschaften hat, so halte auch die Wahrheit im Loben ebenso in Ehren als im Tadeln!
Ich will dir noch mehr sagen: warum willst du die Zeit, welche du dort zuzubringen hast, in müßigen Visiten verlieren? Ist Paris weniger als London ein Schauplatz für Talente und machen daselbst Fremde weniger leicht ihren Weg? Glaube mir, nicht alle Engländer sind Lord Eduard's, und es gleichen nicht alle Franzosen jenen Schönrednern, die dir so sehr mißfallen. Schau dich einmal um, thu' einen Schritt, versuche einmal, wäre es auch nur, um die Sitten tiefer zu ergründen und die Leute am Werke zu sehen, die so gut zu reden wissen. Der Vater meiner Cousine sagt, du kenntest die Verfassung des Reiches und die Interessen der Fürsten, Milord Eduard findet ebenfalls, daß du die Principien der Politik und die verschiedenen Regierungssysteme nicht übel studirt habest. Ich habe mir in den Kopf gesetzt, daß dasjenige Land, in welchem die Fähigkeit am meisten geschätzt ist, das passendste für dich sein wird, und daß du dich nur bekannt zu machen brauchst, um Beschäftigung zu finden. Du erwähnst der Religion, aber warum sollte die deinige dir mehr als manchem Andern hinderlich sein? Schützt nicht die Vernunft