Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe). Jean Jacques Rousseau. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jean Jacques Rousseau
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788075837929
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und den Trank nicht nehmen.

      R. Wenn das geschieht, so ist es dann nicht meine Schuld; ich habe wenigstens gethan, was ich konnte, um ihn ihnen beizubringen.

      Meine jungen Leute sind liebenswürdig; aber um sie im dreißigsten Jahre zu lieben, muß man sie im zwanzigsten gekannt haben. Man muß lange mit ihnen gelebt haben, um sich mit ihnen zu gefallen, und erst wenn man ihre Fehler beklagt hat, wird man an ihren Tugenden Freude finden. Ihre Briefe reizen nicht im ersten Augenblick, aber nach und nach fesseln sie, man kann nicht recht daran, aber auch nicht wieder davon kommen. Anmuth, gefälliger Styl ist nicht darin, auch nicht Verstand, Witz, Beredtsamkeit; nur Gefühl allein; es theilt sich unvermerkt dem Herzen mit und entschädigt zuletzt für alles Andere. Es ist eine lange Romanze, deren Verse einzeln genommen nichts Ergreifendes haben, aber ihr Zusammenhang bringt zuletzt ihre Wirkung hervor. Dies ist mein Gefühl beim Lesen der Briefe: sagen Sie mir, ob Sie in dem nämlichen Falle sind.

      N. Nein! Jedoch begreife ich, daß es Ihnen so ergeht. Sind Sie der Verfasser, so ist die Sache ganz einfach; wo nicht, so begreife ich es dennoch. Ein Mann, der in der Welt lebt, kann sich an die ausschweifenden Gedanken, an das übertriebene Pathos, an das ewige Faseln Ihrer guten Leute nicht gewöhnen. Ein einsamer Mensch mag daran Geschmack finden: Sie haben den Grund selber gesagt. Aber bedenken Sie, bevor Sie dieses Manuscript bekannt machen, daß das Publicum nicht aus Einsiedlern besteht. Das Glücklichste, was Ihnen begegnen könnte, wäre noch, daß man ihr gutherziges Bürschchen für einen Seladon, Ihren Eduard für einen Don Quixote, Ihre Dämchen für ein Paar Astreen nähme und sich daran wie an einer wahren Narrengesellschaft belustigte. Indessen lange Possen sind nicht belustigend: man muß wie Cervantes schreiben, um sechs Bände Phantasterei genießbar zu machen.

      R. Der Grund, aus welchem Sie dieses Werk unterdrücken würden, macht mir Muth, es herauszugeben.

      N. Wie! Die Gewißheit, nicht gelesen zu werden?

      R. Eine kleine Geduld, und Sie werden mich verstehen.

      In moralischer Hinsicht giebt es, meiner Meinung nach, keine Lectüre, die Weltleuten nützen kann. Erstlich, weil die vielen neuen Bücher, welche sie durchlaufen und welche eines ums andere das Für und Wider sagen, gegenseitig sich die Wirkung zerstören und Alles so gut wie nicht geschehen machen. Auserwählte Bücher, welche man wiederliest, machen auch keine größere Wirkung: sind sie im Sinne des Weltlebens geschrieben, so sind sie überflüssig, widersprechen sie demselben, so sind sie unnütz. Sie finden ihre Leser an die Laster der Gesellschaft durch Bande gekettet, welche sie nicht zerbrechen können. Der Weltmann, der einen Augenblick lang Willens ist, in sich zu gehen und seine Seele in die sittliche Sphäre zu versetzen, stößt auf unüberwindlichen Widerstand von allen Seiten und sieht sich jedesmal gezwungen, seinen alten Standpunkt zu behalten oder wieder einzunehmen. Ich bin überzeugt, daß es wenige gutgeartete Menschen giebt, welche nicht diesen Versuch, wenigstens einmal in ihrem Leben gemacht haben. Aber bald entmuthigt durch die Erfolglosigkeit der Anstrengung, erneuert man ihn nicht und gewöhnt sich daran, die Büchermoral als müßiges Geschwätz zu betrachten. Je weiter man sich von den Geschäften, von großen Städten, von zahlreichen Gesellschaften entfernt, desto mehr vermindern sich die Hindernisse. Es giebt eine Grenze, wo diese Hindernisse nicht mehr unüberwindlich sind und alsdann können Bücher von einigem Nutzen sein. Wenn man zurückgezogen lebt, so hat man bei dem Lesen nicht den Zweck, mit Belesenheit Staat zu machen und man liest daher nicht Bücher in Massen und denkt mehr nach über das, was man liest; da nun die Bücher weniger Gegengewicht von außen finden, so machen sie auch innerlich mehr Eindruck. Die lange Weile, diese Pest der Einsamkeit wie der großen Welt, nöthiget, zu unterhaltenden Büchern Zuflucht zu nehmen, der einzigen Hülfsquelle Dessen, der still für sich lebt und keine in sich selbst findet. Man liest mehr Romane in den Provinzen als in Paris, mehr auf dem Lande als in Städten, und sie machen da lebhafteren Eindruck. Sie sehen, warum das nicht anders sein kann.

      Die Bücher aber, welche dem Landbewohner, der nur unglücklich ist, weil er sich dafür hält, zu gleicher Zeit Unterhaltung und Belehrung gewähren könnten, scheinen im Gegentheile nur darauf berechnet, ihm sein Leben noch mehr zu verleiden, indem sie das Vorurtheil, das ihn mit Geringschätzung desselben erfüllt, nähren und befestigen; Schönheiten, Modedamen, Große, Militairpersonen, das sind die Helden aller euerer Romane. Das Raffinement des städtischen Geschmacks, Maximen des Hoflebens, Prachtliebe, Epikuräermoral — das ist es, was sie predigen und lehren. Das Gleißen ihrer geschminkten Tugenden verdunkelt den Glanz der wahren, die Schicklichkeiten der guten Lebensart setzen sie an die Stelle der ernsten Pflichten; schöne Reden werden höher gehalten als schöne Handlungen und die Einfalt guter Sitten gilt für bäuerisches Wesen.

      Welchen Eindruck müssen nicht derartige Gemälde auf einen Herrn vom Lande machen, wenn er die Offenheit, mit welcher er seine Gäste empfängt, verspotten und die Lust, welche er in seinem Bereiche herrschend zu machen sucht, als pöbelhaftes Juchhei behandeln sieht? Oder auf seine Frau, wenn sie erfährt, daß die Erfüllung der häuslichen Pflichten unter der Würde einer Dame ihres Ranges ist? Oder auf seine Tochter, wenn die verrenkten Manieren und der Bombast der Stadt ihr Verachtung einflößen für den ehrlichen Nachbar, der freilich nur ein schlechter Landmann ist und sie geheiratet hätte? Sie wollen nun allesammt nicht mehr Krautjunker sein, ihr Dorf wird ihnen verhaßt, sie lassen ihr altes Schloß im Stiche, welches bald verfällt, und ziehen in die Hauptstadt, wo der Vater, mit seinem S. Louis-Kreuz aus einem Herrn, was er war, ein Knecht oder ein Industrieritter wird; die Mutter etablirt ein Spielhaus; die Tochter lockt die Spieler heran und der gewöhnliche Fall ist, daß sie alle Dreie, nach einem schändlichen Leben, in Schmach und Elend sterben.

      Die Herren Autoren, Literaten, Philosophen schreien unaufhörlich, daß man nicht seine Bürgerpflichten erfüllen, noch seinen Nebenmenschen dienen könne, wenn man nicht in der großen Stadt lebe. Wenn man Paris nicht mag, so haßt man, ihrer Meinung nach, das menschliche Geschlecht; das Volk vom Lande ist in ihren Augen nichts; nach ihren Reden sollte man wirklich meinen, daß es nur Menschen giebt, wo man Pensionen, Akademien und Diners hat.

      Allgemach reißt derselbe Hang alle Stände hin. Erzählungen, Romane, Theaterstücke, Alles stichelt auf die Provinz, macht die schlichten Sitten, wie sie auf dem Lande herrschen, lächerlich und predigt die Manieren und Vergnügungen der großen Welt: eine Schande, diese nicht zu kennen, ein Unglück, sie nicht zu genießen. Wer weiß, mit wie vielen Gaunern und öffentlichen Dirnen die Lockung dieser eingebildeten Freuden Paris tagtäglich bevölkert! So kommen dem Mißgriffe des politischen Systems Vorurtheile und die öffentliche Meinung zu Hülfe, um die Bewohner jedes Landes auf einigen Punkten des Gebietes zusammenzuschichten, daß alles Uebrige öde und menschenleer bleibt; so entvölkern sich die Länder, um die Hauptstädte glänzend zu machen, und dieser eitle Schimmer, der die Augen der Narren blendet, macht, daß Europa schnellen Schrittes seinem Untergange entgegengeht. Es ist zum Heile der Menschen dienlich, daß man diesen Strom vergifteter Maximen aufzuhalten suche. Es ist der Prediger Gewerbe, uns zuzurufen: Seid gut und vernünftig! ohne sich weiter um den Erfolg ihrer Ermahnung viel Sorge zu machen. Der Bürger, der sich Sorge darum macht, muß nicht so dumm sein und nur rufen: Seid gut! sondern uns den Stand lieb machen, in welchem wir es werden können.

      N. Einen Augenblick — schöpfen Sie Athem! Ich mag das gern, was auf's Nützliche abzielt, und ich bin diesmal so sehr mit Ihren Gedanken gegangen, daß ich an Ihrer Stelle fortfahren kann.

      Es ist, Ihrer Entwicklung nach klar, daß man den Werken der Einbildungskraft nicht anders eine nützliche Richtung geben kann, als indem man sich ein Ziel steckt, welches dem, das ihre Verfasser gewöhnlich vor Augen haben, entgegengesetzt ist: alles Bestehende fern halten, zur Natur zurücklenken, den Menschen Liebe zu einem gleichmäßigen und einfachen Leben einflößen, sie von den grillenhaften Vorurtheilen heilen, ihnen Geschmack an wahren Freuden beibringen, ihnen die Einsamkeit und den Frieden lieb machen, sie in einiger Entfernung von einander halten und anstatt sie in Städten zusammenzuschichten, sie dazu bewegen, daß sie sich gleichmäßig über das Land vertheilen, um es aller Orten zu beleben. Ich sehe auch, daß es sich nicht darum handelt, Daphnisse, Sylvandre, arkadische Schäfer, poetische Bauern, die mit eigener Hand ihr Land bauen und dabei über die Natur Philosophiren und sonst dergleichen romantische Wesen, die es nur in Büchern giebt, aus den Leuten zu machen, sondern Denen, die