Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe). Jean Jacques Rousseau. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jean Jacques Rousseau
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788075837929
Скачать книгу
sogleich wiederkommen müßte. Meine Vorsicht half mir nicht; er that hundert Fragen über deinen Zustand, und da sie mich von meinem Gegenstande abzogen, gab ich kurze Antworten und that meinerseits Fragen an ihn.

      Ich fing damit an, seine Stimmung auszuforschen. Ich fand ihn ernst, nachdenklich und ganz in der Verfassung, das Gefühl auf die Wage der Vernunft zu legen. Gott sei Dank, sagte ich bei mir, mein Weiser ist wohl bereitet; es kommt nun darauf an, ihn auf die Probe zu stellen. Man pflegt zwar traurige Nachrichten sonst immer nur allmählig vorzubringen, aber da ich seine stürmische Einbildungskraft kannte, die nur eines Wortes bedarf, um Alles aufs Aeußerste zu treiben, so beschloß ich einen entgegengesetzten Weg einzuschlagen und wollte ihn lieber im ersten Augenblick niederschmettern, um sodann die Milderungen eintreten zu lassen, als seine Schmerzen ohne Noth vervielfältigen und ihm tausend Schläge statt eines einzigen versetzen. Ich nahm also einen ernsteren Ton an, und sagte, indem ich ihn fest ansah: Freund, kennen Sie die Grenzen des Muthes und der Tugend in einer starken Seele, und glauben Sie, daß es eine übermenschliche Kraftanstrengung sei, dem zu entsagen, was man liebt? Augenblicklich sprang er auf wie ein Rasender; dann seine Hände zusammenschlagend und sie so gefaltet an seine Stirn dringend rief er: Ich verstehe Sie; Julie ist todt, Julie ist todt, wiederholte er mit einem Tone, bei dem es mich kalt überlief: ich sehe es, Sie wollen mich hinhalten, Sie wollen mich schonen. Thörichtes Bemühen, das mir den Tod nur langsamer, grausamer macht!

      Obgleich erschrocken über seine plötzliche Bewegung, errieth ich doch im Augenblicke die Ursache und begriff wohl, wie die Nachricht von deiner Krankheit, Milord Eduard's Moralpredigten, die Aufforderung heute Morgen zu mir zu kommen, meine ausweichenden Antworten und meine Fragen ihm zusammen diesen falschen Schrecken verursacht hatten. Ich erkannte auch sogleich, welchen Nutzen ich von seinem Irrthume ziehen könnte, wenn ich ihn einige Augenblicke darin ließ, aber ich konnte mich zu dieser Barbarei nicht entschließen. Der Gedanke des Todes dessen, was man liebt, ist so schrecklich, daß es keinen giebt, der nicht an seiner Stelle süß wäre, und ich nahm geschwind diesen Vortheil wahr. Sie werden Sie vielleicht nicht wiedersehen, sagte ich; aber sie lebt und liebt Sie. Ha! wenn Julie todt wäre, würde dann Clara Ihnen etwas zu sagen haben? Danken Sie dem Himmel, der Ihnen in Ihrem Unglücke Leiden erspart, mit denen er Sie überhäufen könnte. Er war so erstaunt, so erschüttert, so verwirrt, daß ich, nachdem ich ihn wieder hatte niedersitzen lassen, Zeit fand, ihm Alles, was er wissen mußte, der Ordnung nach vorzutragen; ich stellte Milord Eduard's Benehmen in das schönste Licht, um in seinem edlen Herzen dem Schmerze durch den Reiz der Erkenntlichkeit eine Diversion zu machen.

      Dies, mein Lieber, fuhr ich fort, ist die Lage der Sache. Julie schwebt am Rande des Abgrundes; öffentliche Schmach, Unwillen ihrer Familie, Mißhandlungen von Seiten eines heftigen Vaters und ihre eigene Verzweiflung brechen über sie herein. Die Gefahr wächst mit jedem Augenblicke; das Messer, von der Hand ihres Vaters oder ihrer eigenen, ist jeden Augenblick nur zwei Finger von ihrem Herzen entfernt. Ein einziges Mittel ist noch übrig, um allem Unglücke vorzubeugen und dieses Mittel hängt allein von Ihnen ab. Das Schicksal Ihrer Geliebten liegt in Ihren Händen. Sehen Sie zu, ob Sie den Muth haben, sie zu retten, indem Sie sich von ihr entfernen, da es ihr auch ohnehin nicht mehr verstattet ist, Sie zu sehen, oder ob Sie lieber Urheber und Zeuge ihres Unterganges und ihrer Schmach sein wollen. Nachdem sie Alles für Sie gethan hat, wird sie nun erfahren, was Ihr Herz für sie thun kann. Ist es ein Wunder, daß ihre Gesundheit ihren Leiden erliegt? Sie sind in Sorge um ihr Leben, wissen Sie denn, daß Sie Herr darüber sind?

      Er hörte mich an, ohne mich zu unterbrechen; sobald er begriff, um was es sich handelte, sah ich an ihm die lebhafte Geberde, den funkelnden Blick, die scheue aber zuckende Miene, welche er zuvor gehabt, verschwinden, Bestürmung und Trübsinn überzog mit dunklem Schleier sein Gesicht; sein düsteres Auge und seine erloschenen Züge kündigten die Niedergeschlagenheit seines Herzens an: kaum hatte er die Kraft, den Mund aufzuthun, um mir zu antworten. Es muß geschieden sein, sagte er mit einem Tone, den ein Anderer für ruhig gehalten haben würde; gut! ich werde gehen. Habe ich nicht genug gelebt? Nein, gewiß nicht! antwortete ich sogleich; Sie müssen leben für Die, welche Sie liebt; haben Sie vergessen, daß ihre Tage von den Ihrigen abhängen? Man müßte sie also ungetrennt lassen, fiel er rasch ein; sie konnte es, sie kann es noch. Ich that, als hörte ich die letzten Worte nicht, und suchte einige Hoffnung in ihm anzuregen, der seine Seele jedoch nicht zugänglich war; da trat Hans ein, und brachte mir gute Nachricht. In dem Augenblick der Freude, welche er darüber empfand, rief er aus: Ha! sie lebe, sie sei glücklich .... wenn es möglich ist. Ich will ihr nur mein letztes Lebewohl sagen, und dann gehe ich. Vergessen Sie, sagte ich, daß es ihr nicht mehr erlaubt ist, Sie zu sehen? Ach! euer Lebewohl ist gesagt, ihr seid schon getrennt, Ihr Schicksal wird weniger hart sein, wenn Sie fern von ihr sein werden; Sie werden wenigstens die Freude haben, ihre Sicherheit bewirkt zuhaben. Eilen Sie noch heute fort von hier, den Augenblick; daß Sie nicht ein Opfer von solcher Größe bringen und bringen es zu spät. Zittern Sie, ihren Tod noch zu verursachen, nachdem Sie sich schon für sie dahingegeben! Wie? rief er mit einer Art Wuth, ich soll hinweggehen, ohne sie zu sehen? Wie? Ich soll sie nicht mehr sehen? Nein! Nein! Wir werden beide sterben, wenn es sein muß; der Tod, ich weiß es, wird ihr mit mir nicht hart dünken; aber ich will sie sehen, was auch daraus entstehe; ich will mein Herz, mein Leben zu ihren Füßen lassen, ehe ich mich von mir selbst reiße. Es ist mir nicht schwer geworden, ihm die Thorheit und Grausamkeit eines solchen Vorhabens zu zeigen. Aber dieses „Wie? ich soll sie nicht mehr sehen?" das immer wieder und mit immer schmerzlicherem Tone wiederkehrte, schien Trost wenigstens für die Zukunft zu suchen. Warum, sagte ich ihm, wollen Sie sich Ihr Unglück ärger vorstellen als es ist? Warum Hoffnungen entsagen, die Julie selbst nicht aufgegeben hat? Denken Sie, daß sie sich so von Ihnen hätte trennen können, wenn sie glaubte, daß es für immer wäre? Nein, mein Freund, Sie müssen ja ihr Herz kennen; Sie müssen wissen, wie viel ihr ihre Liebe mehr ist als ihr Leben. Ich fürchte, ich fürchte nur zu sehr (ich fügte diese Worte hinzu, gestehe ich dir), daß sie sie bald Allem vorziehen werde, Glauben Sie also, daß sie hofft, da sie willig ist, zu leben: glauben Sie nur, die Vorsorge, welche ihr die Klugheit eingiebt, ist mehr auf Sie berechnet als es den Anschein hat, und sie nimmt sich nicht weniger Ihretwegen so in Acht als ihrer selbst wegen. Ich langte hierauf deinen letzten Brief hervor, und indem ich ihm die Liebeshoffnungen dieses verblendeten Mädchens, das keine Liebe mehr in sich zu haben wähnt, zeigte, belebte ich die seinigen mit dieser milden Wärme. Die wenigen Zeilen schienen einen lindernden Balsam in seine vergifete Wunde zu träufeln. Ich sah seine Blicke sich sänftigen und seine Augen sich netzen, ich sah Schritt für Schritt seine Verzweiflung in Wehmuth übergehen; und bei den letzten so rührenden Worten, wie dein Herz sie nur sagen kann: „Wir werden nicht lange getrennt leben," zerfloß er in Thränen. Nein, Julie, nein, meine Julie, sagte er mit steigender Stimme und den Brief küssend, wir werden nicht lange getrennt leben; der Himmel wird unser Schicksal auf Erden vereinigen, oder unsre Herzen in dem ewigen Aufenthalte.

      Dies war nun die Stimmung, in welcher ich ihn gewünscht hatte. Sein starrer, düsterer Schmerz hatte mich besorgt gemacht. Ich hätte ihn in dieser Gemüthsverfassung nicht von hier fortgelassen; aber sobald ich ihn weinen sah, und deinen geliebten Namen sanft aus seinem Munde kommen hörte, fürchtete ich nicht mehr für sein Leben, denn nichts ist so fern von Zärtlichkeit als die Verzweiflung. In diesem Augenblicke gerieth er in der Bewegung seines Herzens auf einen Einwand, auf den ich nicht gefaßt war. Er sprach von den Umständen, in welchen du dich zu befinden glaubtest, und schwor, lieber tausend Tode zu sterben, als dich in allen den Gefahren, die dir droheten, allein zu lassen. Ich hütete mich, etwas von deinem Zufalle zu erwähnen; ich sagte ihm einfach, daß deine Erwartung wieder getäuscht worden und daß nichts mehr zu hoffen wäre. So wird denn, sagte er mit einem Seufzer, auf Erden sein Denkmal meines Glückes bleiben; es ist verschwunden wie ein Traum, der niemals Wirklichkeit gehabt hatte.

      Ich hatte noch den letzten Theil deines Auftrages auszuführen und ich glaubte, daß es nach der Gemeinschaft, in welcher ihr gelebt habt, dabei keines Umschweifs und Heimlichthun bedurfte. Ich würde selbst ein wenig Streit über diesen geringfügigen Gegenstand gar nicht ungern gesehen haben, um dem auszuweichen, welcher sich über den Gegenstand unserer Unterredung immer noch von neuem entspinnen konnte. Ich warf ihm seine Nachlässigkeit in der Besorgung seiner Angelegenheiten vor. Ich sagte ihm, du fürchtest, daß er seit langer Zeit hierin nicht mehr sorgfältig genug sei, und beföhlest ihm einstweilen,