Er hat gewünscht, die Geschichte unserer Liebe umständlich zu erfahren, auch die Hindernisse kennenzulernen, welche sich dem Glücke deines Freundes in den Weg stellen; ich habe geglaubt, daß nach deinem Briefe ein halbes Vertrauen gefährlich und nicht wohl angebracht wäre; ich habe es also ganz gegeben und er hat mir mit einer Aufmerksamkeit zugehört, welche mir seine Aufrichtigkeit bezeugte. Ich habe mehr als einmal seine Augen feucht und sein Herz gerührt gesehen; ich nahm vorzüglich wahr, welchen Eindruck alle jene Triumphe der Tugend auf ihn machten, und ich glaube dem Claude Anet einen neuen Beschützer gewonnen zu haben, der sich seiner nicht minder eifrig annehmen wird als dein Vater. In dem allen, was Sie mir erzählt haben, sagte er, ist keine überraschende Begebenheit, nichts Abenteuerliches, und doch würden mich die Katastrophen eines Romans weit weniger fesseln! Eure beiden Seelen sind so außergewöhnlich, daß man sie nicht mit dem gemeinen Maße messen muß. Das Glück liegt für euch nicht auf dem nämlichen Wege und ist nicht von der nämlichen Art, wie für die anderen Menschen; sie streben nur nach Macht und Geltung; was ihr braucht, ist nur Zärtlichkeit und friedliches Dasein. Es hat sich euerer Liebe ein Wetteifer in der Tugend beigesellt, der euch erbebt; ihr würdet beide weniger werth sein, wenn ihr euch nicht geliebt hättet. Die Liebe wird vergehen, erdreistete er sich hinzuzusetzen, (verzeihen wir ihm diese Blasphemie, die er in der Unwissenheit seines Herzens ausstieß!) die Liebe wird vergehen, sagte er; die Tugenden werden bleiben. Ach, möchten sie nur dauern, Julie, so lange als sie; mehr brauchte der Himmel nicht zu verlangen.
So sehe ich denn nun, daß die philosophische und nationale Schroffheit in diesem braven Engländer das natürliche Menschengefühl nicht erstickt hat, und daß er an unseren Leiden wahrhaften Antheil nimmt. Wenn Ansehen und Reichthum etwas für uns thun könnten, so dürften wir, wie ich glaube, auf ihn zählen. Aber ach! was vermögen Macht und Geld, um Herzen zu beglücken?
Unsere Unterhaltung, während deren wir die Stunden nicht zählten, zog sich bis zur Zeit des Mittagstisches hin. Ich ließ ein Hühnchen bringen, und nach dem Essen fuhren wir fort zu schwatzen. Er kam auf seinen Schritt von heute Morgen zurück, und ich konnte mich nicht enthalten, ihm mein Erstaunen zu bezeigen, daß er denselben so feierlich vor Zeugen und in so übertriebener Weise gethan hatte: er setzte aber außer dem Grunde, welchen er mir schon angeführt hatte, noch hinzu, daß eine halbe Satisfaction eines Mannes von Muth unwürdig wäre, daß man sie vollständig geben müßte, oder gar nicht, damit man sich nicht erniedrige, ohne etwas gut zumachen, und die Möglichkeit offen lasse, einen mit Widerstreben und halbem Willen gethanen Schritt auf Rechnung der Verzagtheit zu schreiben. Uebrigens, sagte er noch, ist meine Reputation gesichert, ich darf gerecht sein, ohne daß man mich der Feigheit beschuldigen wird; Sie aber, der Sie noch jung sind und erst in der Welt auftreten, müssen so glatt aus dem ersten Handel hervorgehen, daß er Niemanden in Versuchung führt, Ihnen einen zweiten zu bereiten. Die Welt ist voll von dergleichen geschickten Poltrons, die, wie man sich ausdrückt, den Leuten an den Puls fühlen, nämlich um Einen zu entdecken. der noch mehr Poltron ist als sie und auf dessen Kosten sie sich ein Ansehen geben können. Ich will einem Manne von Ehre, wie Sie es sind, die Nothwendigkeit ersparen, Einen von diesem Pack zu züchtigen, wobei kein Ruhm zu gewinnen ist; und ich will, wenn jene eine Lection brauchen, lieber, daß sie sie von mir erhalten, als von Ihnen: denn ein Handel mehr macht für Den nichts aus, der schon mehre gehabt hat; aber einen zu haben, ist immer eine Art Flecken, und Juliens Geliebter soll rein davon bleiben.
Dies ist der kurze Inhalt meiner langen Unterredung mit Milord Eduard. Ich habe es für nöthig gehalten, dir Bericht darüber zu geben, damit du mich anweisest, wie ich mich gegen ihn benehmen soll.
Jetzt, da du beruhigt sein mußt, verbanne, ich beschwöre dich, die bangen Gedanken, welche dich seit einigen Tagen belagern. Denke an die Schonung, welche die Ungewißheit deines gegenwärtigen Zustandes nöthig macht. O, wenn du bald mein Sein verdreifachtest! wenn bald ein geliebtes Pfand .... Hoffnung, schon zu sehr gesunkene Hoffnung, willst du mich noch einmal blenden?... O Wünsche! o Furcht! o Verlegenheiten! Reizende Freundin meines Herzens, leben wir, um uns zu lieben! und laß den Himmel des Uebrigen walten.
N. S. Ich vergaß dir zu sagen, daß Milord mir deinen Brief zugestellt hat, und daß ich keine Schwierigkeiten machte, ihn anzunehmen, indem ich dafür hielt, daß ein solches Unterpfand nicht in den Händen eines Dritten bleiben dürfte. Ich werde ihn dir das nächste Mal, daß wir uns sehen, zurückgeben, denn ich für mein Theil weiß nicht, was ich damit machen soll; er ist zu tief in mein Herz geschrieben, als daß ich ihn je wieder zu lesen brauchte.
Einundsechzigster Brief.
Von Julie.
Bringe mir morgen Milord Eduard, daß ich mich ihm zu Füßen werfe, wie er dir gethan. Welche Größe! welcher Edelmuth! O, wie klein sind wir vor ihm! Bewahre dir diesen kostbaren Freund wie deinen Augapfel! Vielleicht wäre er weniger werth, wenn er Maß hielte: hat es je einen Mann von großen Tugenden gegeben, der nicht seine Schwächen hatte?
Tausend Aengste jeder Art hatten mich ganz daniedergeschlagen; dein Brief hat meinen erloschenen Muth neu belebt; indem er die Schreckbilder verscheuchte, die mich belagerten, hat er meine Schmerzen erträglicher gemacht; ich fühle jetzt Kraft genug, um zu leiden. Du lebst, du liebst mich; dein Blut, deines Freundes Blut ist nicht vergossen worden, und deine Ehre ist in Sicherheit: ich bin also nicht ganz und gar elend.
Du kommst doch morgen? Nie hatte ich ein solches Bedürfniß, dich zu sehen, und nie so wenig Hoffnung, dich noch lange zu sehen. Lebe wohl, mein einzig lieber Freund. Du hast nicht recht gesagt, scheint mir: leben wir, um uns zu lieben; ach! es mußte heißen: lieben wir uns, um zu leben!
Zweiundsechzigster Brief.
Clara an Julie.
Muß ich denn immer, liebenswürdige Julie, nur die traurigsten Pflichten der Freundschaft gegen dich erfüllen? Muß ich immer mit bitterem Herzen das deinige durch schmerzliche Nachrichten betrüben? Ach! alle unsere Gefühle sind uns gemein, du weißt es und ich kann dir keine neuen Leiden ankündigen, die ich nicht schon gefühlt hätte. Warum kann ich dir dein Unglück nicht verbergen, ohne es dadurch noch zu vergrößern? oder warum hat die zärtliche Freundschaft nicht gleiche Zauberkraft wie die Liebe! Oh, wie schnell wollte ich da allen Kummer auslöschen, den ich dir verursache!
Als gestern nach dem Concert deine Mutter, um nach Hause zu gehen, den Arm deines Freundes und du den des Herrn von Orbe angenommen hattest, blieben unsere beiden Väter noch mit Milord Eduard da, um Politik zu sprechen. ein Gegenstand, den ich so über
mäßig satt habe, daß mich die lange Weile in mein Zimmer trieb. Eine halbe Stunde später hörte ich den Namen deines Freundes mehrmals mit ziemlicher Heftigkeit aussprechen: ich merkte, daß sich die Unterhaltung auf einen anderen Gegenstand gedreht hatte und legte das Ohr an. Aus dem Verfolg des Gespräches entnahm ich, daß Eduard gewagt hatte, deine Heirath mit deinem Freunde in Vorschlag zu bringen, den er laut den seinigen nannte und den er dieser Eigenschaft ngemessen zu versorgen sich erbot. Dein Vater hatte diesen Vorschlag verächtlich abgelehnt und darüber begannen die Redenden sich zu erhitzen. Sie sollen wissen, sagte Milord, trotz Ihrer Vorurtheile, daß er von allen Menschen am meisten ihrer würdig ist und vielleicht auch am meisten geeignet, sie glücklich zu machen. Alle Gaben, die nicht vom Menschen abhängen, hat er von der Natur erhalten, und hat alle Talentehinzugethan, die von ihm abhingen. Er ist jung, groß, wohlgebaut, kräftig, gewandt; er besitzt Lebensart, Verstand, gute Sitten, Muth; sein Geist ist gebildet und seine Seele gesund; was fehlt ihm denn, um Ihre Einwilligung zu erhalten? Vermögen? Es wird ihm werden. Der dritte Theil meines Guts reicht hin, um ihn zu dem reichsten Privatmann im Waadtland zu machen; ich trete, wenn es sein muß, auch sogar die Hälfte