Das Einzige, worin ich nicht meiner Freiheit genoß, war die ungemeine Länge der Mahlzeiten. Ich brauchte mich freilich nicht mit zu Tische zu setzen; saß ich aber einmal, so mußte ich schon einen Theil des Tages aushalten und auch danach trinken. Wie sollte man denken, daß ein Mann und ein Schweizer kein Freund vom Trinken wäre? In der That, ich gestehe, daß mir ein guter Wein eine herrliche Sache scheint, und daß ich mich gar nicht ungern durch ihn erheitere, nur muß ich nicht dazu gezwungen werden. Ich habe immer bemerkt, daß die falschen Menschen mäßig sind, und große Zurückhaltung bei Tische verräth ziemlich häufig einen verstellten Charakter und Doppelherzigkeit. Ein offener Mann hat weniger Scheu vor der überfließenden Redseligkeit, den traulichen Ergießungen, welche der Betrunkenheit vorangehen; man muß aber auch einzuhalten und das Uebermaß zu vermeiden wissen. Das war mir aber nicht möglich mit so ausgemachten Trinkern, wie die Walliser sind, bei so starken Weinen, wie sie das Land erzeugt, und an Tischen, wo sich nie ein Tropfen Wasser blicken läßt. Wie hätte man es über sich gewinnen sollen, auf so dumme Art den Weisen zu spielen und solche gute Leute böse zu machen? Ich betrank mich also aus Dankbarkeit, und da ich meine Zeche nicht mit meinem Beutel bezahlen durfte, bezahlte ich sie mit meiner Vernunft.
Ein anderer Brauch, der mich nicht weniger peinigte, war, daß ich überall, selbst bei Magistratspersonen, die Frau und die Töchter vom Hause hinter meinem Stuhle stehend wie Lakaien den Tisch bedienen sah. Eine französische Galanterie würde sich um so mehr gequält haben, diese Unangemessenheit wett zu machen, als mit dem Gesichtchen der Walliserinnen selbst Mägde durch ihre Dienste in Verlegenheit setzen würden. Sie können es mir wohl glauben, daß sie hübsch sind, da sie sogar mir hübsch schienen. Augen, die gewohnt sind, Julie zu sehen, machen Ansprüche im Punkte der Schönheit.
Ich für mein Theil, der ich immer die Bräuche des Landes, in welchem ich lebe, höher achte, als die der Galanterie, lasse mich stillschweigend von ihnen bedienen, so gravitätisch wie sich Don Quixote von der Herzogin bedienen ließ. Ich betrachtete oft mit Lächeln den Abstich zwischen den großen Bärten und den groben Gesichtern der Tischgenossen und der glänzenden und zarten Farbe dieser jungen schüchternen Schönen, die ein Wort schamroth und nur desto anmuthiger machte. Aber ich nahm einigen Anstoß an dem Ungeheuern Umfang ihrer Brust, die nur einen der Vorzüge in ihrer blendenden Weiße von dem Modell hat, an welchem ich sie zu messen wagte, dem einzigen, obwohl verhüllten Modell, dessen verstohlen abgelauschte Umrisse mir ein Bild von jener berühmten Schale geben, welcher der schönste Busen der Welt zum Muster gedient hatte [Der Busen der Helena. Minerva temlum habet … in quo Helena sacravit calicem ex electro; adjicit historia, mammae suae mensura. („In dem Minerventempel ist eine Bernsteinschale, Weihgeschenk der Helena, und wie die Sage hinzufügt, nach dem Maße ihres Busens geformt“).Plin. Hist. Nat. lib. XXXIII, caq. 23.].
Staunen Sie nicht, mich so genau von Mysterien unterrichtet zu finden, welche Sie so gut verbergen: ich bin es ohne Ihren Willen; der eine Sinn giebt wohl bisweilen dem andern Aufschluß: bei aller eifersüchtigen Wachsamkeit entschlüpfen der Kleidung, schließe sie noch so gut, doch hin und wieder kleine Zwischenräume, bei denen das Gesicht den Dienst des Tastsinns übernimmt. Das lüsterne und kühne Auge stiehlt sich ungestraft unter die Blumen eines Straußes; es lauscht unter Chenille und Gaze und verschafft der Hand die Empfindungen des elastischen Widerstandes, den sie selbst nicht zu erproben wagt.
Parte appar delle mamme acerbe c crude: Parte altrui ne ricopre invida vesta, Invida, ma s' agli occhi il varco chiude L' amoroso pensier già non arresta.
[Ein Theil blickt vor der herben jungen Brüste, Das andr' entzieht neidisch Gewand dem Blicke. Neidisch, doch hält's, wenn auch der Augen Lüste, Den lüsternen Gedanken nicht zurücke.
Tasso.]
Ich bemerkte auch einen großen Fehler an der Kleidung der Walliserinnen, nämlich sie haben an ihren Röcken so hohe Rückentheile, daß sie wie bucklig aussehen; das macht in Verbindung mit ihrem kleinen schwarzen Kopfzeuge und dem übrigen Anzuge eine sonderbare Wirkung, die übrigens doch auch etwas Einfaches und Geschmackvolles hat. Ich bringe Ihnen einen vollständigen Walliser Anzug mit, und ich hoffe, er soll Ihnen gut stehen; er ist auf die hübscheste Taille des Landes gemacht.
Während ich mit Entzücken diese so wenig bekannte und der Bewunderung doch so werthe Gegend durchwanderte, was ward aus Ihnen indeß, meine Julie? Waren Sie von Ihrem Freunde vergessen! Juli, vergessen! Würde ich nicht eher mich selbst vergessen? Und was wäre ich auch nur einen Augenblick allein, ich, der ich Alles nur noch durch Sie bin? Ich habe mehr denn je bemerkt, mit welchem Instinkt ich an verschiedene Orte unser gemeinsames Dasein je nach der Stimmung meiner Seele verlege. Wenn ich traurig bin, so flüchtet sie sich zu der Ihrigen und sucht an den Orten Trost, wo Sie sind; dies empfand ich, als ich Sie verließ. Wenn ich froh bin, so ist es mir unmöglich, allein zu genießen, und damit Sie meine Lust theilen, zaubere ich Sie mir dahin, wo ich bin. So ist es mir auf dieser ganzen Wanderung ergangen; weil mich die Abwechslung der Gegenstände unaufhörlich an mich selbst erinnerte, so nahm ich sie überall mit hin. Ich that nicht einen Schritt, den wir nicht mit einander thaten; ich bewunderte keine einzige Aussicht, ohne sie geschwind Ihnen zu zeigen. Alle Bäume, denen ich begegnete, gaben Ihnen Schatten; jeder Rasen diente Ihnen zum Sitze. Bald an Ihrer Seite betrachtete ich mit Ihnen die Gegenstände umher; bald zu Ihren Füßen betrachtete ich einen der Blicke eines gefühlvollen Menschen würdigeren Gegenstand. Kam ich auf einen schwierigen Pfad, so sah ich Sie darüber hinhüpfen mit der Leichtigkeit eines Rehs, das neben seiner Mutter herläuft. Mußte ich durch einen Gießbach, so erkühnte ich mich, mit meinen Armen die so süße Last zu umschließen; ich ging langsam, langsam durch das Wasser, wonnevoll, und sah mit Trauer, daß wir schon am Ufer waren. Alles erinnerte mich an Sie in diesen stillen, friedlichen Gegenden, und die ergreifenden Schönheiten der Natur, die unwandelbare Reinheit der Luft, die einfachen Sitten der Bewohner, ihr gleichmäßiges, verständiges und festes Wesen, die liebenswürdige Schamhaftigkeit des weiblichen Geschlechts, seine unschuldvolle Anmuth und Alles, was angenehm meine Augen und mein Herz berührte. Alles malte ihnen nur Die ab, die sie beständig suchen.
O meine Julie! rief ich gerührt aus, warum kann ich nicht meine Tage mit dir an dieser unbekannten Stätte hinbringen, beglückt durch unsere Glückseligkeit und nicht durch die Aufmerksamkeit der Menschen! Warum kann ich nicht hier meine ganze Seele auf dich allein sammeln und auch dir dein Alles sein! Angebetete Reize, dann, dann würdet ihr der Huldigungen genießen, deren ihr würdig seid! Liebeswonne, ohne Ende würden dich unsere Herzen schlürfen! In langer süßer Trunkenheit würden wir der Flucht der Jahre vergessen; und wenn endlich das Alter unsere erste Glut gemildert hätte, würde die Gewohnheit, mit einander zu denken und zu empfinden, an die Stelle ihres Dranges eine nicht minder zärtliche Freundschaft setzen. Alle edeln Gefühle, in der Jugend mit denen der Liebe zugleich genährt, würden einst die unendliche Leere ausfüllen; wir würden im Schoße dieses glücklichen Volkes und nach seinem Beispiel alle Pflichten der Menschlichkeit erfüllen; unablässig würden wir unsere Kräfte vereinigen. Gutes zu thun, und würden nicht sterben, ohne gelebt zu haben.
Die Post kommt an; ich muß meinen