Tannenfall. Das andere Licht. Bernhard Hofer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernhard Hofer
Издательство: Bookwire
Серия: Tannenfall
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960415732
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bestattet zu werden. Der Hain war der Rest eines zusammenhängenden Urwaldkomplexes, der sich in frühen Tagen von Seußlitz bis weit in das Elbsandsteingebirge erstreckt hatte. Inzwischen war der Friedewald ein Bestattungswald, wo zwischen Buchen und Eichen Menschen ihre letzte Ruhestätte fanden.

      Ich kam zu spät. Das Urnenbegräbnis war bereits im Gange. Eine kleine Gruppe hatte sich um einen Geistlichen versammelt, der aus einem handlichen Buch vorlas. Überall hingen große Schilder aus Holz, die auf die einzelnen Ruhestätten hinwiesen. Ich näherte mich langsam der Gruppe und versuchte, nicht auf einen Zweig zu treten. Doch schon bei einem meiner nächsten Schritte lenkte das laute Knacken eines brechenden Astes alle Aufmerksamkeit auf mich, und ich starrte mit einem Mal in viele fragende Gesichter.

      »Nicht die!«, sagte eine Frau, die gut genährt und mit dickem silbernen Schmuck behangen unter einem Trachtenhut zu mir hersah.

      Schnell mischten sich ein paar Zischlaute unter die Trauernden. Sie waren nicht mehr als ein Grüppchen von zehn bis fünfzehn Menschen. Aber die ältere Frau ließ nicht locker. Ich kannte sie. Sie war die Mutter meines verstorbenen Mannes, Dimitri, des leiblichen Vaters meiner armen Kinder.

      »Sie ist der Teufel. Bringt sie weg von hier!«, schrie die alte Frau und sah mich mit giftigen Blicken an. »Du gehörst hier nicht her.«

      Ich erinnerte mich an die Bestattung meines Mannes. Er war nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben. Zuerst war, quasi über Nacht, der Husten gekommen. Dann das Fieber und am Ende hatte er nach Atem gerungen. Eine besonders seltene Form von COPD, hatten die Ärzte gesagt.

      Seine Mutter hatte das anders gesehen und mich für den Tod ihres Sohnes verantwortlich gemacht. »Du hast etwas Kaltes, etwas Dunkles an dir, vor dem alles Leben flieht. Du bist das Krumme in dieser Welt. Du bist das Schmutzige. Du gehörst nicht zu uns. Durch dich ist diese verfluchte Krankheit zu ihm gekommen!«, hatte sie mich immer wieder angebrüllt und war vor dem Baum ihres Sohnes zusammengebrochen. Dann hatte sie sich einen Ast gesucht, der in ihren Augen das Krumme in mir verkörperte, und versucht, mich damit zu schlagen. Und ich hatte es zugelassen. Ich hatte mich nicht gerührt, sondern nur still geweint, als der Ast über meinem blutigen Schädel zerbrochen war.

      Als die Alte jetzt wieder nach einem Ast in ihrer Nähe suchte, nickte ich und floh aus dem Wald. Wieder versuchte ich, die Beisetzung so leise wie möglich zu verlassen. Ich beschloss, zu dem großen einsamen Baum zu gehen, wo früher mein Erdloch gewesen war. Von dort konnte man den Wald in der Entfernung sehen, und von dort wollte ich mit meinem hellblauen Kleid Abschied von meinem Vater nehmen. Meinem tyrannischen, brutalen Vater.

      Ich suchte das Erdloch, das früher neben dem Baum gelegen hatte. Es war so groß gewesen, dass ich mich der Länge nach hineinlegen konnte, und so tief, dass mich niemand von der Straße aus gesehen hatte, wenn ich auf allen vieren gekauert hatte. Als ich den Platz gefunden hatte, begann ich, mit den Händen Erde aus der Wiese zu heben. Ich hörte erst damit auf, als ich ein kleines, knöcheltiefes Loch geschaufelt hatte. Ich fasste an den Stoff des blauen Kleides und setzte mich in die feuchte Kuhle. Dann wandte ich mich in Richtung des Waldes, wo mein Vater nun seine letzte Ruhe fand.

      Ich suchte nach der Trauer in mir, aber ich fand sie nicht. Ich dachte an die vielen Wochen, die ich hier zugebracht hatte, um die Vergebung meiner Sünden zu erbitten. Als mein Mann gestorben war, hatte es sogar einen ganzen Monat gedauert. Mein Vater hatte beim Baum gewartet und mich mit dem Gürtel geschlagen, wenn ich auch nur einen Augenblick abgelassen hatte, Gott um die Vergebung meiner Sünden anzuflehen. Nur alle zwei Tage durfte ich aus einer Holzschale trinken. Das Essen hatte er mir ganz verboten. Ich magerte in der Zeit der Buße so sehr ab, dass wir anschließend ins Krankenhaus fahren mussten, wo mein Vater den Ärzten von einer Bulimie erzählte, die ich nie gehabt hatte.

      Jetzt war er tot, und ich saß mit einem hellblauen Trauerkleid in dem Erdloch, das er für mich auserkoren hatte. Es begann zu regnen. Als ich nach oben blickte, verschwand der letzte Rest Himmel im dunstigen Grau. Über mir stand ein Falke. Es gab hier viele Falken.

      Ich hatte den Wagen nicht gehört. Er hatte oben hinter den zwei Bäumen gehalten. Von dort konnte man das Erdloch ins Visier nehmen und mich beobachten. Ich war mir sicher, dass auch mein Vater oft dort gestanden hatte.

      »Greta? Bist du es?«, rief eine junge Stimme durch den Regen.

      Ich sah hoch und erkannte Anja.

      Sie war mit mir in die Schule gegangen, und ich hätte gesagt, dass sie die einzige Freundin war, die ich je gehabt hatte. Anja war hübsch, hatte hellbraunes, gelocktes Haar und eine reine Haut. Sie hatte diese offenen Augen, in die sich Männer immer verliebten. Anja war mittlerweile mit einem aus dem Industrieviertel verheiratet. Sie hatte zwei Kinder und war immer noch sehr hübsch. Sie hatte mir einmal geschrieben und sich mit mir treffen wollen. Ich konnte mich nicht erinnern, warum ich damals nicht geantwortet hatte.

      Anja war allein. Sie sperrte den Wagen ab und kam von der Straße zu mir. Sie reichte mir die Hand und half mir, aus dem kleinen Loch aufzustehen. Ich dachte an damals, als ich von den Mädchen in der Schule von einem kleinen Felsen hinter dem Friedewald gestoßen worden war. Anja hatte sich damals vor die wütenden Mädchen gestellt, die auf mich einschlagen wollten wie auf ein tolles Wild, das zähnefletschend auf dem Boden lag. Mit meinen schmutzigen Händen fasste ich nach Anjas Hand. Wie damals.

      »Was machst du hier?«

      Ich senkte meinen Blick und sagte: »Nur Luft schnappen.«

      »Dein Vater wird heute beerdigt. Und sie lassen dich nicht zu ihm. Habe ich recht?«

      Ich nickte.

      »Komm. Ich bringe dich … nach Hause.«

      Der Hof war alt. Der ständige Wind hatte an den Fassaden seine Spuren hinterlassen. Das zweistöckige Holzgebäude sah aus wie eine heruntergekommene Südstaatenvilla aus dem 19. Jahrhundert. An die durchbrochenen Zäune und die zerschlagenen Fensterscheiben hatte ich mich längst gewöhnt. Sie waren mir vertraut.

      Anja stellte ihren Wagen vor der Eingangstür ab und ließ mich aussteigen.

      »Ich … äh … danke dir! Ich würde dich gerne hineinbitten, damit wir einen Kaffee trinken oder so … aber ich befürchte, dass …«

      »Schon gut, Greta.«

      Ich wartete, bis Anja wieder den Wagen startete. »Warum gehst du nicht weg?«, fragte sie. »Ich kann dir helfen.«

      »Ich bin Ende vierzig. Wo soll ich hin?«

      »Es ist doch nie zu spät, irgendwo neu anzufangen.«

      »Ach, das sind doch nur leere Worte.«

      »Aber was willst du denn hier tun? Jetzt, wo dein Vater tot ist.«

      Ich sah Anja an. Sie wusste nicht, wo ich die letzten zwanzig Jahre meines Lebens verbracht hatte. Ich spürte ihr Mitleid von damals.

      »Ich kann doch nichts mit diesen Händen anfangen«, sagte ich und zeigte ihr meine schmutzigen Finger.

      »Aber du bist doch klug. Geh doch in die Stadt, dann wird sich schon etwas ergeben! Hier bleiben kannst du nicht. Wovon willst du denn leben?«

      »Ich kann mit ihnen nichts anfangen«, wiederholte ich meine Worte und blickte auf meine Hände. »Mein Kopf ist meist auch ganz schwer. Und ich weiß nicht, ob das, was ich darin sehe, immer wahr ist …«

      Ich spürte die Träne, die über meine Wange lief. Wie gerne wäre ich in Anjas Auto gestiegen und fröhlich geworden.

      »Weiß du was? Komm erst mal zu dir! Ich besuche dich am Wochenende, dann reden wir. Und ich bringe Kaffee mit. Ich muss jetzt leider los. Mein Mann und ich haben einen wichtigen Termin, und ich muss vorher noch zum Friseur. Aber ich komme, versprochen.«

      Ich nickte und lachte dazu – und wusste, dass ich Anja nie wiedersehen würde.

      Ich wartete, bis ihr Wagen verschwunden war, dann trat ich ins Haus. Vater hatte die Tür nie abgesperrt. Er hatte geglaubt, dass man das Böse nicht einfach aussperren konnte, indem man