»Mach dir keine Sorgen! Sie ist gesund, und alles ist gut.«
Ich blickte zum Gartenhaus. Es war verlassen. Nur der Waldwind schlich noch um das alte Gemäuer. Mit zugeschnürtem Hals drehte ich mich zu Carlotta und fasste ihren Oberarm. »Und du versprichst mir, dass sie nicht krank ist und … Hast du den Mann da oben auch gesehen? Er hat sie gestoßen. Ich dachte für einen Moment, dass er sie …«
Ich legte mir die Hand vor den Mund, da ich das Beobachtete für mich behalten wollte.
Carlotta strich über meinen Kopf. »Alles ist gut. Es ist jetzt Zeit für deine Dusche und das Lernen.«
Ich sah empor zum Falken, der wie ein Bote vom Gartenhaus wieder zu uns herüberflog. Er hatte keine Haube auf. Er war keiner von uns.
»Sie hatte dasselbe Kleid an wie vor zwanzig Jahren. Ich bin mir sicher, es war dasselbe. Ich habe es an den Schmetterlingen erkannt. Sie hat es wieder angezogen, als hätte sie etwas Großes vor.«
»Du musst dich jetzt fertig machen für das Lernen. Wir können später noch darüber reden.«
Wir gingen zurück auf mein Zimmer. Ich hatte das Glück, einen direkten Zugang zur Terrasse zu haben. Carlotta schloss hinter mir die Tür und sah beim Eintreten die losen Zeitungsblätter auf dem Boden. Sie hob sie auf und warf einen kurzen Blick auf das, was dort geschrieben stand.
… Es ist wie eine große, stille Krankheit, bei der man zusehen kann, wie die Tiere qualvoll um die letzten Atemzüge kämpfen, als wäre deren Zahl begrenzt …
Ich bemerkte die Falte auf ihrer Stirn. Aber sie schüttelte nur kurz den Kopf und strich mit Zeigefinger und Daumen kräftig über den Falz, bevor sie die Zeitung zu den anderen auf den Stapel legte. Er reichte bis zur Decke.
»Wir müssen hier mal Ordnung machen«, sagte Carlotta und blickte auf die anderen Türme aus alten, staubigen Zeitschriften, vergilbten Büchern und zerknitterten Manuskripten. Vor dem quadratischen Fenster, das wie eine Schießscharte in die alten Mauern geschlagen worden war, stand mein kleiner Schreibtisch aus gehärtetem Eichenholz. Ich hatte mir immer vorgenommen, ihn aufzuräumen, aber die Abschriften hielten mich die ganze Nacht wach, weshalb ich einfach keine Zeit dafür fand.
Ich hatte die Erlaubnis erhalten, meine Bilder neben dem Fenster anzubringen. Ich brauchte sie. Für meine Arbeit. Manche waren gerahmt, manche hatte ich aus Zeitschriften ausgeschnitten, manche herausgerissen, manche hatte ich selbst gezeichnet. Ich kannte jedes einzelne. Sie hatten sich in den vielen Jahren in mein Gedächtnis gebrannt. Ich hatte sie nie gezählt, aber es waren sicher hundert. Vielleicht zweihundert. Vielleicht mehr. Die meisten zeigten sie, die alte Babenbergerin. Manche Bilder hatte ich mit einem Stift markiert, hatte im dunklen Hintergrund Gesichter umkreist, die ich darin erkennen wollte. Unter manche hatte ich Notizen geschrieben. Und wenn der Platz nicht gereicht hatte, hatte ich weitergeschrieben bis auf die Wand. Aber ich besaß auch andere Bilder. Bilder von Rittern, von Königen. Sie lagen in den Schubladen.
Wenn Carlotta mich beobachtete, wie ich die Geschichte der alten Babenbergerin niederschrieb, verglich sie mich mit einem Mönch, der gebückt und weltvergessen im kalten Schatten seiner Klostermauern kauerte und mit seinem Griffel akribische schwarze Linien in ein aus Schafsleder gegerbtes Pergament kratzte. Mein Blick fiel auf ein Bild, das ich aus einem alten Geschichtsbuch hatte kopieren lassen. Es zeigte den Onkel der alten Babenbergerin, Herzog Friedrich II. von Österreich aus dem 13. Jahrhundert. Er hatte sich auf seiner Burg in Wien mit ausgestopften Tieren umgeben. Sie waren in dem schattigen bemalten Hintergrund des Bildes kaum zu erkennen. Aber ich sah sie. Ich sah sie alle. Auch die Hirsche hinter dem Schatten. Sie waren weiß. Daran hatte ich keine Zweifel.
»Ist alles gut?« Carlotta stellte sich hinter mich und strich mit dem Handrücken über meine Wange. Ich nickte und suchte zitternd ihren Blick. Sie sah müde aus. So wie ich.
»Jetzt noch duschen und dann geht’s zum Frühstück, ja? Du musst weniger arbeiten. Du brauchst den Schlaf.«
»Ich muss noch schreiben«, sagte ich, löste mich von den Bildern und begann, meine bis an den Rand vollgeschriebenen Blätter zu ordnen.
»Es ist gut, wenn es dir hilft. Aber du musst achtgeben, dass du dich darin nicht verlierst.«
»Qui scribere nescit, nullum putat esse laborem. Tres digiti scribunt. Duo oculi vident. Una lingua loquitur. Totum corpus laborat. Wer nicht schreiben kann, denkt, das sei keine Arbeit. Drei Finger schreiben. Zwei Augen sehen. Eine Zunge spricht. Der ganze Körper arbeitet.«
Ich hatte in der Zeit, in der ich mich mit dem Leben der Gertrud von Babenberg beschäftigte, ein wenig Latein gelernt, um die Geheimnisse besser deuten zu können. Aber bisher war mein Wissen vergeblich.
»Ich mache mir Sorgen um dich. Medora, ist sie da?«
Ich kippte den Kopf zur Seite. Blickte zu Boden. Ich fühlte mich unwohl, wenn ich über sie sprach. Sie war der Beweis, dass ich verrückt war, dass mit mir etwas nicht stimmte, dass ich nach all den Jahren noch immer die Krumme war.
»War sie gestern da?«
Ich nickte.
»Willst du beim Sehen darüber reden? Willst du mir erzählen, was du gesehen hast?«
»Ich war weit weg, auf Bergen, mit ihr und anderen. Wir haben gegen Wölfe gekämpft, und da waren Menschen, so viele, ein dunkles Volk, es füllte die Täler und sah zu uns herauf …« Eine Träne lief über meine Wange.
»Wer waren die anderen?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte ich.
Carlotta stand auf und ging ans Fenster. In der doppelten Verglasung spiegelte sich ihr Gesicht. Das bruchfeste Glas war sicherer als die Gitterstäbe von früher.
»Ich glaube, sie kommt. Die große Krankheit. Ich habe sie geholt. Die Gipfel, die Hirsche und Wölfe, diese vielen Menschen und dann diese Brände überall.«
»Das alles geschieht nur in deinem Kopf. Da sind diese schrecklichen Brände, ja, aber es gibt keine große Krankheit.«
»Es beginnt immer gleich. Zuerst Husten. Dann das Blut. Und mit dem Fieber kommt die Atemnot. Als hätte jemand die Zahl der Luftzüge begrenzt«, flüsterte ich, als wollte ich Carlotta damit überzeugen. Aber es gelang mir nicht. Ebenso wenig wie all die Jahre zuvor.
»Es ist meine Schuld.«
»Das ist es nicht.«
»Doch. Das ist es. Das war es immer.«
»Wenn du uns mit der großen Krankheit anstecken könntest, dann müssten wir doch auch längst krank sein, oder?«, sagte Carlotta und verfiel dann in Schweigen. Mit einem lauten Klacken der alten Türklinke öffnete sie das kleine Bad und legte ein weißes Frotteehandtuch auf einen Hocker aus schwarzem Rattan. Sie strich mit der flachen Hand über die Oberfläche des Handtuches und platzierte eine kleine blaue Seife in Form einer Blume darauf, bevor sie das Wasser aus der Dusche ließ. Ich liebte das warme Rauschen. Den Duft der Seife. Die Brause war in die Decke eingelassen, damit ich mich nicht daran erhängen konnte.
Ich wickelte mich aus meiner grauen Decke und ging ins Bad. Während ich mich auszog, suchte ich im Badezimmerspiegel nach Carlotta. Sie verschwand immer mehr im Dampf des warmen Wassers, aber ich konnte noch erkennen, wie sie die Zeitung, die sie vom Boden gehoben und zusammengefaltet hatte, in die Hand nahm und sie dann achtlos hinwarf, bevor sie die Wolldecke auf mein Stahlrohrbett legte.
Als die Wasserfäden über meinen Kopf fielen, sah ich wieder durch das kleine Fenster nach draußen. Die aufgehende Sonne legte die Grabstätten der Anstalt in ein feurig rotes Licht. Ich schloss die Augen. Das Wasser prickelte auf meiner Kopfhaut und floss durch meine Gedanken.
Womöglich war niemand krank. Auch nicht unsere Leiterin. Hätte doch nur jemand gesehen, was ich gesehen hatte: