»Ich will sofort zu ihr!«, schrie Walter.
Carlotta fasste von hinten meine Hand und flüsterte mir ins Ohr: »Seine Mutter ist gestorben.«
»Und warum lassen sie ihn dann nicht zu ihr?«
»Das geht nur in Ausnahmefällen.«
Walter spannte den Spielzeugbogen so weit, dass das dünne Holz durchzubrechen drohte.
»Wo ist sie? Die Leiterin. Ich habe sie doch heute hier gesehen. Sie würde es mir erlauben. Lasst mich gehen!«
Sie ist krank, Walter. Auch Klara ist krank. Wir alle werden bald krank sein.
»Senken Sie Ihre Waffe, Wirt Walter!«, sagte eine strenge Frauenstimme aus einem der vielen Lautsprecher, die überall in der Heilstätte auf uns gerichtet waren.
»Wo ist sie?«
Walters Diener griff langsam nach hinten und holte einen echten Bogen hervor. Er hatte über die Jahre immer mit seinem Patienten das Bogenschießen trainiert. Nun spannte er den Bogen, und mit dem scharfen Zerren der Sehne schlich eine schreckliche Stille über die Heilstätte. Der Diener zielte mit seinem Pfeil direkt auf den Kopf von Walter, der ihm gegenüberstand mit seiner kleinen Spielzeugwaffe.
»Hört auf!«, schrie ich plötzlich und erschrak vor meinen eigenen Worten.
Walter nutzte die Verwirrung und schoss seinen stumpfen Pfeil gegen die Brust seines Pflegers, der an der gelben Dienstkleidung abprallte wie ein geworfenes Stöckchen.
Doch plötzlich löste sich die Spannung. Aus Walters Hand fiel der Brief, der alles ausgelöst hatte. Er bückte sich heulend, hob den Umschlag wieder auf und streckte ihn seinem Diener entgegen. Dieser senkte seinen Bogen und nahm den Brief.
»Woher hast du den?«, fragte er Walter, der wieder begann, nach Hilfe zu rufen.
»Du hast ihn gestohlen! Du weißt, dass Stehlen hier streng geahndet wird. Jetzt gib den Brief seinem rechtmäßigen Eigentümer zurück!«
»Meine Mutter ist tot«, sagte Walter immer und immer wieder. Erst als sein Diener den Bogen erneut spannte und auf seinen Kopf zielte, lenkte Walter ein. Er drehte sich um und kam zu mir.
Ein Schauer lief durch meinen Körper.
Ein Brief. Für mich. Nach zwanzig Jahren.
Meine Hände zitterten.
»Mein Beileid«, sagte Carlotta mit leiser Stimme.
Mein Beileid. Der Tod war zurückgekehrt.
Ich presste die Augen zusammen. Ich spürte den Brief in meiner Hand.
»Ich habe Angst …«
»Es ist dein Vater. Du musst dich verabschieden. Auch nach allem, was geschehen ist. Oder gerade deswegen.«
»Aber es ist doch verboten.«
»Es gibt Ausnahmen, wie du weißt.«
»Aber ich bringe den Tod …«
»Das tust du nicht. Wir alle sind gesund. Ich begleite dich und passe auf dich auf, ja?«
»Und sie? Medora? Glaubst du, dass sie auch mitkommt?«, fragte ich meine Dienerin, so leise ich konnte, damit mich die anderen nicht hörten.
Carlotta nickte und nahm meine Hand. »Ich passe auf dich auf, ich verspreche es dir«, sagte sie zu mir und blickte in den Himmel, wo der Mond über uns stand.
»Sing zum Mond. Du kennst unser Lied. Solange er da ist, werde ich auf dich aufpassen.«
Sing zum Mond.
Ich legte meinen Kopf ebenfalls in den Nacken und blickte in den schwarzen, mit Sternen übersäten Abendhimmel. Und während auf dem Turm ein Falke flatternd seinen letzten Flug auf einem knarrenden Balken beendete, entschloss ich mich, meinen Vater noch einmal zu sehen.
EIN KRUMMER TON
»Es sollte blau sein. Hellblau«, sagte ich zur Verkäuferin, die mit mürrischer Miene Kleider von dem Ständer hob, auf dem »Reduziert um 70 %« stand.
»Das ist alles, was wir haben. Wenn Sie etwas anprobieren wollen: Dort hinten sind die Umkleiden.«
Die Verkäuferin legte mir die Kleider in die Arme und kehrte wieder zu ihrer Zigarettenpause vor dem Laden zurück. Das Geschäft war menschenleer, und in den Regalen lag Staub. Ich suchte in meinen Armen nach einem passenden Kleid, fand aber nichts. Weiter hinten im Laden sah ich einen Modeprospekt. Darauf war eine junge Frau in einem hellblauen Kleid zu sehen, das mit weißen Spitzen versehen war.
Carlotta hatte mir einmal beim Sehen erzählt, dass an einem Wallfahrtsort die Statue der Muttergottes mit einem hellblauen Kleid der wartenden Prozession präsentiert worden war. Vater war evangelisch gewesen. Er hatte nichts von der Jungfrau Maria gehalten. Aber ich dachte, dass er vielleicht am Ende seines Lebens seinen Frieden mit ihr gemacht hätte. Und so hatte ich beschlossen, als Zeichen der Versöhnung in einem hellblauen Kleid zu seiner Beerdigung zu gehen. In Wahrheit erinnerte es mich an das Kleid unserer Leiterin.
Als die Ladenbesitzerin, eine unsportliche Frau Mitte vierzig mit kurzen, stumpfen Haaren und einem schlecht aufgetragenen rosa Lippenstift, zurück in den Laden kam, zeigte ich auf den Modeprospekt.
»Darauf gibt es aber keine siebzig Prozent Rabatt«, sagte sie mürrisch und ging so dicht an mir vorbei, dass ich den kalten Rauch auf ihrem roten Strickpullover riechen konnte.
»Sind Sie nicht die Kleine vom alten Erdsegen?«, fragte sie und stellte den Karton, den sie vom Lager geholt hatte, auf den Verkaufstresen am hinteren Ende des Ladens.
Ich nickte vorsichtig und senkte meinen Blick, wo er unbeholfen über den hellbraunen Linoleumboden umhersprang.
»Er war lange nicht mehr in der Kirche, hat mir mein Vater gesagt. Er soll mal wiederkommen. Sonst betet ja niemand mehr für uns, hat mein Vater gesagt. Wie geht es ihm denn? Lebt er noch draußen auf dem Hof?«
»Er ist gestorben.«
Betretenes Schweigen, dann sagte die Verkäuferin mit neu angekurbelter Stimme: »Das tut mir aber leid.« Ton und Blick trieften vor falschem Mitleid. »Wann denn? Ich habe gar nichts gehört.«
»Vor fünf Tagen. Heute ist das Begräbnis.« Ich schluckte und wagte, kurz hochzusehen. Hitze stieg mir in die Wangen, und ich hoffte, dass ich bald wieder den Laden verlassen konnte, zusammen mit dem blauen Kleid.
Die Verkäuferin blickte zwischen dem hellblauen Stoff, der aus dem Karton blitzte, und mir hin und her. Ich wusste, dass sie mich fragen wollte, wozu ich das Kleid brauchte, aber sie schwieg.
»Wie gesagt: Siebzig Prozent kann ich Ihnen nicht geben, aber sagen wir dreißig? Weil wir uns kennen. Ich drücke ein Auge zu.«
Ich zog meinen Mund auseinander, versuchte zu lächeln und machte eine Art Knicks, wie es Vater von mir immer verlangt hatte, wenn mir jemand etwas Gutes getan hatte. Dann trat ich an den Tresen, kramte aus meiner Hose aus hellbraunem Cord ein paar Münzen hervor und schob sie zur Verkäuferin. Sie sah mich an und musterte mich von oben bis unten. Ich zog meine hellgelbe, zerknitterte Bluse nach unten und wischte meine alten dunkelroten Schuhe an der Wade sauber.
»Mehr habe ich leider nicht«, sagte ich und bemerkte, wie meine Stimme zitterte.
»Weil du ein armes Ding bist«, sagte die Verkäuferin und schob die Münzen zu mir.
Ich bedankte mich mit einem schnellen Nicken und verließ den Laden, ohne das Kleid anzuprobieren.
Der Friedhof lag fünfundzwanzig Kilometer südlich von Heyda, links neben dem großen Laubbaum, der wie ein trauriges Denkmal auf den weiten Feldern stand. Hinter dem Baum fiel die Ebene ein wenig ab und mündete noch weiter hinten in einen lichten Wald. Dahinter konnte man die Windräder erkennen