Doch dann kam die Wende. Und mit der neuen Freiheit kam das Krumme in mir zurück und brachte Dimitri den Tod. Und meinen beiden Kindern, die er mit Gewalt in mir gezeugt hatte. Zuerst kam der Husten, dann das Fieber, bald darauf atmete er immer schwerer und bald gar nicht mehr.
Ich war achtzehn Jahre alt, als mich mein Vater wieder in das Erdloch stieß. Diesmal hatte er es noch tiefer gegraben und Scherben hineingeworfen, damit das Krumme endlich und für immer verschwinden würde. »Poenitentia. Poenitentia …«, schrie er wie besessen.
Ich lag oft tagelang draußen in der Kälte. Ohne einen Tropfen Wasser, ohne einen einzigen Bissen zu essen. Und auch wenn mein Vater nicht wie ein Schatten hinter mir stand, wagte ich nicht, mich zu erheben, denn das Krumme würde mich wieder niederreißen und zurückstoßen in die Erde.
Seither waren fast dreißig lange Jahre vergangen. Jahre der Einsamkeit, der Buße, des Kummers, der Armut. Ich hatte mich selbst in ein kleines Verlies gesperrt und neben meinem Vater ein spärliches Leben geführt. Ich wusste nicht, wie oft ich in dem Erdloch gewesen war. Und wie viele Tage hintereinander. Ich wusste von dieser Zeit nur noch, dass mein Vater Musik gehört hatte, während ich geschrien und gebrüllt hatte. Wagner. »Tannhäuser«. Vielleicht hatte er so wie ich das Krumme akzeptiert und sich auch in seine Welt zurückgezogen, wo wir beide nur auf den Tod warteten. So wie Mutter, so wie Dimitri, so wie meine Kinder, die ich so sehr geliebt hätte, wären sie nicht auf brutale und abscheuliche Weise eingepflanzt worden. Vielleicht konnte er es auch nicht mehr ertragen und hatte mich deshalb in die Heilstätte geschickt.
Nun war mein Vater tot. Ich stand auf und blickte aus dem Fenster. Es war Nacht geworden. Ich dachte an Anja. Ich sollte einfach weggehen. Ein neues Leben beginnen. Vielleicht hatte sie recht, dachte ich und sah mich in meinem alten Zuhause um.
Ich stieg nach oben über die alten Treppen und öffnete das Zimmer meines Vaters. Es war klein, gedrungen und voller Bilder von Heiligen. An den Wänden hingen unzählige Kreuze, und auf einer kleinen Anrichte stand neben dem alten Plattenspieler ein Bild von der Jungfrau Maria in einem hellblauen Kleid. Ich trat näher und nahm das Bild in beide Hände. Die Muttergottes hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit mir. Ich stellte das Bild zurück. Mein Blick fiel auf eine Schallplattenhülle – »Tannhäuser«. Dirigiert von Herbert von Karajan.
Ich zog die alte Platte heraus und legte sie auf den Teller. Die Nadel knisterte, und bald ertönten die ersten Hörner. Mein Vater hatte die Lautsprecher in voller Lautstärke aufgedreht. Als die ersten Streicher die Hörner ablösten, ergriff mich eine erhabene Gewissheit, die mir verriet, dass es Zeit war, dem allen ein Ende zu setzen. Ich nahm die Plattenhülle und drehte sie in meinen Händen. Dabei fiel mir auf, dass mein Vater eine Stelle mit einem schwarzen Stift markiert hatte. Er hatte die Worte »Sängerstreit auf der Wartburg« eingekreist. Und darunter hatte er mit kleinen Blockbuchstaben geschrieben: »Verfluchte Babenbergerin! Sie hat den krummen Ton hierhergebracht. Meine Greta wird daran zerbrechen.«
Ich trat zurück und hörte ein dumpfes Schlagen, das von unten heraufdrang. Ich runzelte die Stirn und schob die Plattenhülle zurück an ihren alten Platz. Verfluchte Babenbergerin. Ein Schauer lief über meinen Rücken. Hatte er sie auch gekannt? War es kein Zufall gewesen, dass mein Vater immer wieder »Tannhäuser« gespielt hatte, wenn das Krumme in mir nach außen getreten war? Und als ich dann die Hörner und die Streicher in der Erhabenheit des Tannhäusers wie Wasserfälle vom Himmel laufen hörte, schlug plötzlich wieder jemand gegen die Eingangstür.
Unter den tosenden Klängen Wagners schlich ich nach unten. Ein schmächtiger Priester mit schütterem Haar stand vor mir und hielt eine kleine blaue Schatulle in der Hand. Sie zeigte ein Bild des italienischen Malers Giotto. Tränen liefen über meine Wange, als mir der kleine Mann das Kästchen entgegenstreckte.
»Verzeihen Sie die späte Störung! Ich wollte Sie nicht ängstigen. Ich habe Sie bei der Bestattung nur kurz gesehen. Ich war ein Freund Ihres Vaters. Er unterstützte unsere Kirche auch in der schweren Zeit vor der Wende. Er hat mich gebeten, Ihnen dies im Falle seines Ablebens zu überreichen.«
Während der Priester mir die Dose in die Hand drückte, spürte ich, dass hinter ihm ein Wind in den alten Hof drang. Meine Hände zitterten, und ich fuhr mit dem Zeigefinger sanft über die blau verzierten Blumen. Als ich den Deckel nach oben klappte, fand ich einen Brief darin. Ich nahm ihn und faltete ihn auf. Meinen Besucher nahm ich kaum noch wahr, stattdessen begann ich zu lesen. Schon bald zitterte ich am ganzen Körper.
Der kleine Priester schien zu spüren, dass dieser Brief von immenser Bedeutung für mich war. Vielleicht spürte er sogar, dass er nicht nur mein Leben verändern würde, sondern alles. Jedenfalls sagte er in einem fürsorglichen Ton, den mir gegenüber noch niemand angeschlagen hatte: »Ihr Vater war im Unrecht, als er Sie bezichtigte, für den Tod anderer Menschen verantwortlich zu sein. Es war nicht Ihre Schuld. Es war eine Krankheit, die sie alle geholt hat. Ihre Mutter, Ihren Gemahl … Ihre beiden Kinder. Es war eine Krankheit. Eine große Krankheit. Ihr Vater glaubte, dass etwas Teuflisches in Ihnen wohnt, das diese Krankheit herbeiruft. Ich weiß, das entschuldigt nicht, was er Ihnen angetan hat, aber es soll Ihnen helfen, ihn zu verstehen. Und ihm zu verzeihen, dass er Sie nach dem Tod Ihres Mannes und Ihrer Kinder schließlich in die Nervenheilanstalt ins Kloster gebracht hat. Viele hier glauben, dass Sie all die Jahre hier waren, auf dem Hof, bei ihm. Aber ich weiß, wo Sie waren. Zwanzig Jahre ist es her … das ist eine lange Zeit. Es tut mir so leid …«
Ich nickte, dann las ich den Brief fertig. Anschließend starrte ich den Priester an. Fraglos fühlte er sich unbehaglich.
»Ich muss gehen«, sagte ich zu ihm. »Ihr Auto! Können Sie mir Ihr Auto leihen?«
»Ich verstehe nicht …«
»Ich bringe es Ihnen wieder zurück, aber ich muss dringend weg.«
Der kleine Mann sah zu Boden und nickte. Er kramte in der Tasche seiner Hose und legte mir den Wagenschlüssel und etwas Geld in die Hände.
»Drücken Sie, wenn Sie losfahren, die Kilometerzahl immer auf null! Ich weiß, es ist töricht, aber es soll Glück bringen.«
Ich schwieg und nickte.
»Und Sie bringen mir den Wagen wieder, ja? Stellen Sie ihn dann einfach bei der Kirche ab, wenn Sie –«
Als der Priester die Tränen in meinen Augen sah, wusste er, dass es besser war, mich jetzt allein zu lassen. Er nickte noch einmal und verabschiedete sich. »Ich werde zu Fuß gehen. Ein Spaziergang in der Nacht ist gut für die Gesundheit«, sagte er und trat zurück in die Dunkelheit.
Ich dachte an Carlotta. Sie hatte mich mit ihrem Wagen nach Heyda gebracht. Wir beide waren in den letzten zwanzig Jahren einer Routine gefolgt, die mich hätte heilen sollen. Doch ich war nicht geheilt. Vom ersten Moment an, als ich wieder in die schmutzigen Fußstapfen meines alten Lebens getreten war, wusste ich, dass ich nicht geheilt war. Ich war eine Krumme, wertlos und schmutzig, und ich brachte die große Krankheit. Alles war wie immer. All das Lernen, das Sehen und Siegen. Wertlos.
Doch der Inhalt des Briefes, der auf weichem, welligem Papier mit zittriger Hand geschrieben war, stellte alles auf den Kopf. Ich wusste, dass ich in einer Stunde wieder in Heyda sein sollte, wo mich Carlotta am Straßenrand aufsammeln und zurück auf meine Terrasse bringen würde. Und anschließend würde ich dort auf den Sonnenaufgang warten, um die nächtlichen Bilder in meinem Kopf verschwinden zu lassen. Aber ich konnte nicht zurück. Jetzt nicht. Ich würde morgen oder vielleicht den Tag darauf wieder in der Heilstätte sein. Ich würde mir eine Geschichte ausdenken, die erklärte, warum ich die Routine verlassen und dabei auf das mir entgegengebrachte Vertrauen gebaut hatte. Ich könnte sagen, dass ich mir Sorgen gemacht hatte um die Leiterin der Anstalt, weil ich sicher war, sie am Straßenrand gesehen und husten gehört zu haben. Dass ich dann aber doch zu dem