Himos hob die Schultern und die Hände. »Anscheinend lange genug.«
»Wurde die Steuer erhöht?«
Himos schürzte die Lippen. »Davon habe ich leider nichts mitbekommen. Aber so übel wie die momentan drauf sind, ganz bestimmt. Selbst in Buntbabel wird immer mehr verlangt. Jedenfalls wird wieder eine Leibesvisitation stattfinden, du solltest also deine Abschürfung bedecken, sonst hält die Inquisition das noch für Verfall.«
»Danke, aber ich habe keine Abschürfung.«
»Sicher? Ich könnte schwören, ich hab da im Nacken was gesehen. Ich könnte dich genauer absuchen, was meinst du?«
Nele verzog den Mund und verließ wortlos den Laden.
»Du solltest mir dankbar sein!«, rief Himos, doch sie sah nicht zurück.
Ihr war speiübel vor Angst.
Erschöpft kam sie an ihrer Hütte an. Die Mittagshitze drückte wie ein Bleigewicht auf ihre Schultern. Nele schlug die Blechtür hinter sich zu, verriegelte sie und holte die Amphore unter ihrem Hemd hervor. Das Wasser rann frisch und klar ihre Kehle hinab. Köstlich! Einen Augenblick lang vergaß sie alles um sich herum.
Dann kehrte die Angst zurück.
Himos hatte etwas in ihrem Nacken gesehen. Vermutlich ein Bluff, um sie absuchen zu dürfen. Sie fasste unter ihren Zopf, ertastete etwas Raues auf der Haut. Es brannte!
Nein, das kann nicht sein. Mach dich nicht verrückt, das ist nicht der Verfall. Der Sand ist immer überall. Bestimmt hast du dir nur eine juckende Stelle aufgekratzt.
Der Verfall begann schließlich mit blutergussähnlichen Flecken. Diese wurden dunkler, dicker und härter und rauten nach einer Weile auf. Bis sich dann die weißen Eiterpusteln in den schwärzlichen Abschürfungen bildeten, konnten Wochen vergehen.
Wann hab ich mich zuletzt abgesucht? Vor der letzten Kontrolle, richtig? Die ist noch nicht lange her. Da waren keine Flecken!
Sie schluckte schwer und nahm ihre Spiegelscherbe zur Hand. Sie wollte nicht nachsehen, denn jedes Kind wusste, dass sich diese Krankheitsmale schmerzlos auf die Haut schlichen, ähnlich wie Wüstenzecken vor dem Stich. Erst kurz bevor sie sich schwarz färbten, spürte man sie.
Na los, sieh nach. Das im Nacken ist nur eine aufgekratzte Stelle. Ganz sicher.
Im Grunde überprüfte sie sich vor jeder Passkontrolle doch sowieso bloß aus Gewohnheit, damit ihr nichts entging, was die Inquisitoren verdächtig finden konnten. Nele hob die Spiegelscherbe und …
Nein! Das ist unmöglich!
Die enge Blechhütte begann, sich vor ihren Augen zu drehen – gemeinsam mit dem blutergussähnlichen Fleck an der Halsseite. Schwer ließ sie sich auf ihr schmuddeliges Deckenlager sinken. Wo war das so plötzlich hergekommen?
Nie hatte sie darüber nachgedacht, was sie tun würde, wenn sie eines Tages die grässliche Gewissheit ereilte, dass sie tatsächlich Flecken hatte. Aber jetzt war es soweit. Sie fühlte sich wie betäubt.
Im nächsten Moment hämmerte es am Eingang. Sie zuckte so heftig zusammen, dass sie beinah aufgeschrien hätte.
»Passkontrolle!«, rief eine tiefe Männerstimme.
Ein Pfeil aus purem Eis schoss Nele ins Herz.
WAS? Morgen! Himos hat »morgen« gesagt!
Es hämmerte erneut. Wie hypnotisiert starrte sie auf die erbebende Blechtür. Tag für Tag hätte sie die fünf Schritte bis zum Abgrund gehen und sich fallen lassen können. Verdammt, wäre es nicht egal gewesen, wie entsetzlich das Schicksal ihres aufprallenden Körpers gewesen wäre? Sie hätte es sowieso nicht mehr mitbekommen.
Noch vor wenigen Stunden hatte sie zu den drei Echsengöttern dafür gebetet, es enden zu lassen. Aber jetzt? Jetzt war es anders. Bei der Leibeskontrolle überführt und dann hingerichtet zu werden, war das Entsetzlichste, was einem widerfahren konnte. Und das Unwürdigste. Es hätte zu ihr gepasst, oh ja, dennoch wollte sie es nicht.
Nicht so! Sie hatte ihr ganzes Leben dafür gekämpft, es eines Tages besser zu haben und allein dadurch hatte sie Gazaels Liebe errungen, nur deshalb hatte sie ihm ein Kind geboren! Längst vergessener Lebenswille pumpte durch ihre Glieder.
»Aufmachen!«, rief die Stimme von eben. »Männer, eintreten!«
Nele dachte nicht weiter nach. Während es vorn an der Tür krachte, warf sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die klappernde Rückwand ihrer Hütte. Das Blech gab ein Stück nach, prallte gegen etwas. Ein heiserer Fluch folgte. Nele warf sich noch einmal dagegen. Wieder gab die Wand nach und diesmal konnte Nele hindurchschlüpfen. Vor ihr rappelte sich einer der Inquisitoren vom Boden auf – offenbar hatte er die Hütte von hinten absichern wollen.
»Sie haut ab!«, schrie er.
In diesem Moment vernahm sie ein Scheppern und Bersten aus der Hütte. Die anderen hatten die Tür aufgebrochen.
In blinder Panik rannte sie davon, stürmte durch die engen Gassen, bog ab, so oft sie konnte. Die Stimmen hinter ihr wurden leiser, doch sie wurde nicht langsamer.
Es gab jetzt nur noch einen Ort, wo sie hinkonnte.
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