Sie senkte den Blick. »Das klingt gefühllos, selbst für einen Waranjäger wie dich.«
Gazael streichelte ihr über die langen, braunen Haare. »Ich fühle mit denen, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. So wie du es immer getan hast. Wäre deine Hartnäckigkeit nicht gewesen, wären wir jetzt nicht hier.« Er bedachte sie mit zärtlichem Blick, dann zog er sie an sich. »Ich bin stolz, dass du unseren Sohn austrägst«, murmelte er in ihr Haar.
Dann nahm er ihre Hand, und gemeinsam gingen sie im Schatten der gigantischen Plattform auf die schwarze Säule zu, die breiter und höher und verheißungsvoller war als alles, was Nele je gesehen hatte.
Neu-Babel, Westplattform, heute, 2306.
Nele erwachte am Abend aus unruhigem Schlaf. Geradezu ohrenbetäubend klapperte die Rückwand ihrer zwei mal drei Schritt kleinen Blechhütte. Sie ertrug es fast nicht mehr. Zu dieser Jahreszeit stürmte es jeden Tag wenigstens einmal in solcher Stärke. An eine Reparatur war allerdings nicht zu denken, sie hatte größere Sorgen.
Wenn es nicht der Wind war, der sie weckte, dann waren es wahlweise Durst, Hunger oder einfach die brachiale Hitze. Die Blechhütte mit den Luftlöchern an der Decke hatte Ähnlichkeiten mit dem Ofen in Toras Garküche, doch auf der Straße zu schlafen, war in dieser Gegend keine gute Idee, wenn man nicht ausgeraubt, vergewaltigt oder getötet werden wollte.
Schwerfällig tastete sie nach ihrem Solar-Minilenser, klemmte ihn ans Ohr und knipste das kleine Licht daran an. Dann zog sie ihr Hemd und die Hose aus braunem Synthoplast über – einem Stoff, der gerüchtehalber noch von Materialrollen aus der Alten Zeit stammte, die in den Kellern unterhalb Neu-Babels lagerten. Steif und unbequem wie er war, stellte er doch für die Menschen auf der Plattform der Armen, »Braunbabel« oder »Lumpenbabel« genannt, die einzige bezahlbare Möglichkeit dar, sich Kleidung anzufertigen.
Sie kratzte über ihre Haut, die vom ewigen Sand, den der Wind durch jede Ritze trug, wundgeschmirgelt war. Ihr ganzer Mund fühlte sich pelzig an und ihre Zunge klebte dick und taub am Gaumen. Sie schloss die Augen. Nele hatte die Berge im Westen bisher nur von Weitem gesehen, graubraun und massig, doch mittels der Kraft ihrer Vorstellung sah sie sich selbst im grünen Gras stehen und von dem Wasser der Bäche trinken, die es dort geben sollte.
Mit Mühe sammelte sie ein wenig Speichel und schluckte. In ihrer Fantasie rann herrlich kaltes Wasser ihre Kehle hinunter. Manchmal half das über den gröbsten Durst hinweg, doch als sie die Augen wieder öffnete, wurde ihr bewusst, dass Vorstellungskraft allein sie nicht mehr lange am Leben halten würde. Sie fühlte sich wie eine Greisin, nicht wie sechsundzwanzig.
»Komodon, Lizardon, Gatordon … helft mir, einen weiteren Tag zu überstehen.«
Früher war sie auf die Knie gegangen, um zu beten. Inzwischen nuschelte sie die Worte nur noch, während sie nach draußen in die hereinbrechende Dunkelheit schlüpfte, um ihren Lebensunterhalt zu erarbeiten. Es fiel ihr Nacht um Nacht schwerer.
Wofür das Ganze?, fragte sie sich, als sie auf ihren durchgelaufenen Sandalen durch die engen, schmutzigen Gassen schlich. Es gab nichts, für das sich der Kampf noch lohnte. Längst hatte sie verlernt zu leben. Sie atmete weiter ein und aus. Mehr nicht.
Der Hunger zerriss ihr Inneres, aber sie rührte die Spinnen in ihrer Hand nicht an.
Du darfst sie nicht essen. Du brauchst das Geld für die Steuer, ermahnte sie sich.
Schweren Herzens packte sie die haarigen, orangefarbenen Spinnen, die sie mithilfe ihres Blechhakens aus einer Nische gekratzt hatte, in ihren Beutel. Die Nacht war wenig erfolgreich gewesen. Stundenlang war Nele umhergestreift, doch war sie meist zu langsam gewesen, wenn der Lichtkegel des Minilensers ein Beutetier zwischen den Schatten aufgescheucht hatte. Sie war einfach zu erschöpft. Die Morgendämmerung nahte und es befanden sich bloß eine Handvoll Spinnen und drei kleine Skorpione in ihrem Beutel.
Frustriert deaktivierte sie die »AkustikSchock2100«, die alte Köderfalle, mit der es ihr ab und an gelang, eine der flinken Nacktratten zu fangen. Sie waren katzengroß, wehrhaft und schrecklich klug. Mit ihren dolchartigen Klauen konnten sie Nele ernsthaft verletzen, wenn sie nicht vom Knall im Inneren der dickwandigen Köderbox verwirrt oder betäubt waren.
Sie schlug den Weg zu Toras Garküche ein, wo sie die Beute für einen Lohn verkaufen würde, für den sie gerade einmal Wasser bekommen konnte. Den jämmerlichen Rest musste sie für die Steuer sparen. Wieder würde sie sich hungrig nach Hause schleppen, wo sie bis zur Abenddämmerung schlief, um das armselige Spiel von vorn zu beginnen.
Der Stadtteil, in dem sich die Garküche befand, wurde von Hütten und Häuschen aus Verbundplastik geprägt, dem rauen Baustoff, der auf der anderen Plattform in sogenannten 3D-Druckern hergestellt wurde und gegen einen Wucherzins an jene, die wenigstens über ein bisschen Geld verfügten, verliehen oder verkauft wurde. Trotz der maroden Häuserwände und Dächer – das Verbundzeug hielt bestenfalls wenige Jahre dicht – war es eine annehmbare Gegend im Vergleich zu Neles Viertel, das sich wie ein Hungergürtel aus Blech über eine Breite von zwanzig Schritt an der Plateaukante entlangzog. Einen richtigen Weg gab es in Braunbabel nicht. Stattdessen huschte Nele zwischen den löchrigen Häusern und den Hütten hindurch, die dicht an dicht standen.
»Wir werden nicht lange hier sein«, hatte Gazael gesagt, als Nele und er sich das erste Mal zwischen den Hütten zurechtfinden mussten. »Noch bevor unser Sohn zu sprechen lernt, werden wir auf der sicheren Plattform sein.«
Nele schüttelte die Erinnerungen ab. In letzter Zeit taten sie nicht einmal mehr wirklich weh, zu taub fühlte ihr Inneres sich an. Vorbei die Zeit, in der ihr der Schmerz das Gefühl gab, überhaupt noch am Leben zu sein. Eine Unendlichkeit musste zwischen diesem Tag, an dem noch alles möglich schien, und heute liegen.
»Stopp, Schlampe!« Die Stimme klang rau und drohend.
Nele gefror in der Bewegung. Sie wusste genau, was jetzt kam, dazu brauchte sie den sauren Atem der Frau hinter sich weder zu spüren noch zu riechen.
»Umdrehen, langsam!«
Nele drehte sich resigniert um. Die Augen, die sie anstarrten, glühten vor geplatzten Äderchen. Ein Fauchen erklang, als die Frau den Schneidbrenner einschaltete. Mit zittriger Hand hielt sie ihn vor Neles Gesicht. Mit der anderen deutete sie auf den Beutel und machte eine »Gib her«-Geste.
»Los, oder ich brenn dir die Fresse weg!«
Nele kniff die Augen zusammen, der grelle Lichtkegel blendete sie, die Hitze war unerträglich. Sie wandte das Gesicht leicht ab und benetzte ihre Lippen mit der Zunge.
»Ich hab keine Silberlinge, hab nur Nahrung«, sagte sie. Aber die brauche ich für Wasser!, wollte sie anfügen, doch diesen Fehler machte sie nicht noch einmal. Sie wusste, dass die Überfälle fast immer von Verzweifelten begangen wurden, deren Not innerhalb eines Wimpernschlages in Hass und Gewalt umschlagen konnte. Das hatte sie bereits schmerzvoll lernen müssen.
»Den ganzen Beutel, mach schon!« Die Augen der Grauhaarigen blinzelten nicht, sie zuckten nur merkwürdig, und Nele erkannte, dass bei der hier die Verzweiflung schon weit fortgeschritten war, wie eine böse Krankheit. Sie war bereits wahnsinnig geworden.
»Gut, gut«, beschwichtigte Nele und fasste mit einer Hand nach dem Beutel.
Als sie ihn ihr hinhielt, grapschte die Frau mit einer Schnelligkeit danach, die Nele ihr nicht mehr zugetraut hätte, und verschwand hinter dem nächsten Verschlag. Vermutlich war sie lange nicht so alt, wie sie aussah.
Nele sackte zusammen. Weg, alles weg. Nicht nur die wenige Nahrung, auch ihre Knallschockfalle. Nun war überhaupt nichts mehr übrig. Nichts bis auf den Minilenser und … Sie fasste in ihre Hosentasche. Ja, da war es. Jetzt nach dem Messer zu greifen, war kein Problem, aber beim Überfall hatte sie sich wie immer nicht getraut. Ein Hohn. Wozu hatte sie das Ding überhaupt?
Nele kannte die Antwort zu gut: Sie sehnte sich danach, endlich Frieden zu finden. Aber »über die Kante zu gehen«, wie