Remedium. Thomas Lohwasser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Lohwasser
Издательство: Bookwire
Серия: Die Erben Abaddons
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783966293020
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sich über die Augen, das Gesicht, verbot sich, die alten Bilder zuzulassen.

      Sie befühlte das Springmesser in ihrer Hosentasche, glitt mit dem Daumen über den Schieber am Griff, mit dem man die Klinge herausschnappen lassen konnte, und dachte: Worauf wartest du noch? Es geht gewiss ganz schnell …

      Sie konnte nicht. Oh Gazael, wie falsch hast du mich mit deinem verliebten Blick gesehen! So oft hast du mich eine Heldin genannt. Dabei bin ich sogar zu feige, um diesem unwürdigen Leben ein Ende zu setzen.

      Gewiss eine Stunde saß sie einfach nur da, beobachtete, wie sich die Sonne im Osten hinter »Buntbabel« erhob. Die Armen nannten die gegenüberliegende Plattform so, weil die Menschen dort reich genug waren, um sich fröhlich bunt zu kleiden und ebenso zu bauen. Die Sonne tauchte die gewundenen, kugeligen, spitzen oder flachen Dächer der Prachtbauten in goldenes Licht. Über allen anderen Gebäuden glitzerte das höchste und gewaltigste von ihnen wie ein einziger, gigantischer Edelstein, weil dort beim Bau unzählige Splitter der kostbaren »Himmelssteine« eingelassen worden waren. Es hieß, dort oben, im sogenannten »Turm des Olgarko«, lebten die Superreichen.

      Für Nele symbolisierte er ihre verlorene Hoffnung. Eines Tages werden wir da wohnen, hatte sie sich immer gesagt und fest daran geglaubt – bis zuletzt. Doch war sie in all der Zeit nicht einmal in die Nähe der Ostplattform gekommen, dabei war es angeblich nur eine Stunde Fußmarsch bis dorthin, sofern man ungeschoren durchkam.

      Sie wandte sich ab. Wäre es nicht so bitter gewesen, hätte sie über ihre Dämlichkeit lachen können. Die glorreichen Geschichten, die sie über die Stadt gehört hatte, handelten in Wahrheit alle von der Seite jenseits der Grenze, doch das hatte sie nicht gewusst. Erst hier in Braunbabel hatte sie es erfahren: »Nach drüben kommst du nur in Ketten, Süße.«

      Die Sonnenstrahlen tasteten über ihre Haut. Es würde ein heißer Tag werden. Nele erhob sich und schlurfte in die andere Richtung, zu ihrem Blechverschlag, der es nicht wert war, »Zuhause« genannt zu werden.

      »Komodon, Lizardon, Gatordon … macht, dass es endet.«

      Da bemerkte sie ein Huschen. Ein Gecko flitzte ein paar Schritte, hielt still, drehte seinen flachen Kopf in die Sonne. Nele verharrte ebenfalls. Sie hatte noch nie einen solchen Gecko gesehen. Zwischen den zwei schwarzen Streifen am Rücken glänzte er blau wie ein Himmelsstein. Bestimmt war er wertvoll! Echsen brachten mehr Silberlinge als Nacktratten, zudem hatte diese hier keine der üblichen bräunlichen oder gelblichen Musterungen. Nele pirschte sich an. Mit einem Mal war sie wach. Der Gecko ruckte mit dem Kopf, schaute zu ihr – und ergriff die Flucht.

      Vergeblich. Seine Glieder waren noch träge von der Kühle der Nacht. Nele fing ihn mit bloßen Händen.

      Schweiß rann ihr über Gesicht und Nacken, als sie die Garküche erreichte. Aus der offenen Tür schlugen ihr die Hitze des Garofens und der Gestank der Tiere entgegen, vermischt mit dem verlockenden Duft von Essbarem. Wie immer war das Räumchen erfüllt vom Zirpen der Grillen, Fauchen der Nacktratten, Scharren der Käfer und sonstigen Kleintiere, die in engen Käfigen hinter der Theke darauf warteten, in Toras Kochstelle zu billigen Pasteten und Bratspießen verarbeitet zu werden.

      »Hallo Tora!«, rief Nele.

      Die ältere Frau drehte sich vom Ofen um und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können.

      »Das kannst nicht du sein, Nele«, sagte sie und zog die Augenbrauen hoch. »Nicht um diese Zeit und vor allem nicht mit diesem Funkeln in den Augen.«

      Nele legte das Säckchen, das sie aus ihrem Unterhemd improvisiert hatte, auf den Tresen und tippte mit dem Finger darauf. Durch den Stoff konnte man die Bewegungen des Tieres ausmachen.

      »Schau nach«, sagte sie ungeduldig. »Na los, Tora!«

      Die Ältere sah sie gespannt an. »Was Feines?«

      »Sag du’s mir, los!« Neles Magen knurrte laut, doch sie wagte nicht, auf Linderung zu hoffen.

      Vorsichtig zog Tora den Stoff auf, um hineinzulinsen. Dann schlug sie ihn hastig wieder zu.

      »Eine Abendhimmelechse, gute Güte! Weißt du, was die wert sind? Ihr Schwanz gilt drüben als Spezialität!«

      Tora drückte sich oft so überschwänglich aus, um sie aufzuheitern. Doch Nele reagierte nicht mehr darauf. Silberlinge waren alles, was zählte.

      Tora nahm den Hemdsbeutel mit hinter die Theke, wo sie ihre Zutaten und Gewürze in Tonkästen verstaute. Eine Käfigtür quietschte und schlug wieder zu, dann verschwand sie im Hinterzimmer und kehrte kurz darauf mit dem Säckchen zurück, in dem nun Münzen klimperten.

      »Hier, meine Kleine. Hast es verdient.«

      Aufgeregt zählte Nele nach.

      »Wow«, hauchte sie. Satte vierzehn Silberlinge. Das waren fast dreimal so viele wie nach einer ihrer guten Nächte!

      Sie blickte auf und grinste, und auch Tora zeigte ihre Lachfältchen.

      »Kindchen, ich hab dich lange nicht mehr lächeln sehen. Hatte fast vergessen, wie hübsch das an dir aussieht.«

      Nele sah noch mal in das Säckchen. Sie musste sich verzählt haben.

       Tatsächlich. Vierzehn Münzen.

      »Pass gut darauf auf und kauf dir was Schönes«, sagte Tora. »Erst mal Pastetchen?«, fügte sie an, denn Nele gönnte sich immer eines, wenn sie genügend verdient hatte.

      Nele nickte und überlegte. Eine heiße Ratten-Pastete, eine Amphore gefilterten Wassers, von dem ihr nicht gleich flau im Magen wurde, und die Sicherung der nächsten Steuer waren schön genug. Etwas anderes zu kaufen konnte sie sich nicht vorstellen.

      In diesem Moment polterte es an der Tür.

      »Geld her!«, schrie ein Mann und fuchtelte mit einem rostigen Metallrohr herum. Seine Augen starrten gehetzt aus tiefen Höhlen, Schweiß lief ihm über das schmutzige Gesicht.

      Nele wich zurück, stieß gegen den Tresen. Vor ihrem geistigen Auge zerschellte die Wasseramphore am Boden, verschwand die Pastete im Mund des Mannes und ihre Silberlinge in seinen Taschen. Am liebsten wäre sie auf der Stelle tot umgefallen. Sie konnte keine weitere Katastrophe überstehen.

      Tora knurrte: »Das würde ich mir zweimal überlegen, Bastard.«

      Der Kerl erbleichte hinter seinem filzigen Bart und stolperte ebenso laut, wie er gekommen war, wieder aus der Tür. Nele wandte sich um.

      »Wie …« Sie brach ab. In Toras Händen lag eine langläufige Schusswaffe. Sie sah monströs aus.

      »Glaub mir, seitdem sich herumgesprochen hat, dass ich nicht einfach nur eine alte Frau bin, gehört Mist wie dieser gerade zur Ausnahme.« Sie schob die Waffe zurück unter den Tresen und lachte finster, aber zufrieden. Nele dachte voller Scham an das Messer in ihrer Tasche. Sie hatte nicht einmal daran gedacht, es rauszuholen.

      »Ich bewundere deinen Mut«, sagte sie, während Tora an der Kochstelle eine Pastete befüllte.

      »Ach Liebes«, kam es zurück. »Ich will bloß nichts mehr weggenommen kriegen. Ich nenne das Entschlossenheit, nicht Mut. Und wenn du so alt werden willst wie ich, dann schaffst du dir besser auch was davon an.«

      Sie reichte Nele die dampfende Pastete über den Tresen. Nele schob ihr eine Münze zu und griff nach dem Essen. Schon bei dem Geruch lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie setzte sich an eines der zwei kleinen Tischchen neben der Tür und biss in den heißen Teig. Der strenge Geschmack des Rattenfleisches zwang sie wie immer beim ersten Happen, das Gesicht zu verziehen. Dann siegte der Appetit und sie begann zu schlingen.

      »Ist Himos in der Stadt?«, fragte sie kauend.

      »Seit drei Tagen zurück, soviel ich weiß. Du willst freiwillig zu ihm?«

      »Wenn er gefiltertes Wasser hat.«

      »Hat er.« Tora nickte. Sie schwieg einen Moment, bevor sie sagte: »Jaspar hat wieder nach dir gefragt.«

      Nele