Der Schrei der Kröte - Roland Benito-Krimi 1. Inger Gammelgaard Madsen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Inger Gammelgaard Madsen
Издательство: Bookwire
Серия: Roland Benito-Krimi
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711571682
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nicht gefragt hatte. Deswegen hatte sie angenommen.

      »Kommen Sie her!« Anne winkte sie zu sich. Die Büsche verbargen sie vor dem Blick der Polizisten. Anne hatte entdeckt, dass sich auch auf der Rückseite des Containers eine Tür befand. Diese hatten die Polizisten nicht abgesperrt. Sie hatten sie wahrscheinlich gar nicht bemerkt, weil sie hinter den Büschen versteckt lag und zudem genauso rostig war wie der Rest der Containerrückseite. Die Tür knirschte in den Angeln, als Anne sie öffnete. Intensiver Gestank drang ihnen in die Nase. Kamilla trat in etwas Schleimiges. Es war Kotze. Fast hätte sie sich ebenfalls erbrechen müssen.

      »Es scheint, als ob diese Tür erst vor kurzem das letzte Mal geöffnet worden ist«, murmelte Anne. Erneut winkte sie Kamilla näher. »Los! Machen Sie ein Foto!«, sagte sie leise.

      »In den Container hinein? Meinen Sie wirklich?« Sie hörte ihre eigene Stimme, laut und verwundert, wiewohl sie sich auf beiden Ohren taub fühlte. Aber sie tat, worum sie gebeten worden war. Der Blitz leuchtete im dunklen Container auf. Sie konnte auf dem Display der Kamera kein Motiv ausmachen, auch nicht im Sucher, und so schoss sie einfach ein paar Fotos aufs Geratewohl. Wenn der Blitz aufleuchtete, sah sie kurz schwarze Müllsäcke, blau gestreifte Aldi-Tüten, prallvoll mit Abfall, Kartons, altes Gerümpel, Essensreste, Blätter, Äste und vermoderte Pflanzen. »Das reicht jetzt.« Unvermittelt zog Anne sie am Ärmel. Sie hatte von ihrem Wachposten aus gesehen, dass ein Polizist auf dem Weg zu ihnen war.

      »Was machen Sie da?«, rief er, gerade als sie unter dem gestreifte Band hindurchgeschlüpft und damit zurück auf »legalem« Boden waren. Anne zeigte ihm ihren Presseausweis.

      »Ich kann Ihnen leider nichts über diese Sache sagen«, unterstrich er. Dann deutete er auf die Kamera, die an einem Riemen um Kamillas Hals hing. »Wovon haben Sie Fotos gemacht?«

      »Nur vom Container. Wir müssen verdammt noch mal etwas in die Redaktion mitbringen, ansonsten werden wir gefeuert«, antwortete Anne Larsen und strich sich die Haare zurück.

      Kamilla wunderte sich, dass Anne so gut den Unschuldsengel mimen, ja sogar dem großen Polizisten kontra geben konnte, der sich nun breitschultrig vor ihnen auftürmte. Sie selbst hatte rote Wangen vor Aufregung und hoffte, dass der Polizist es nicht bemerkte. Sie fing an, die Kotze an ihren Schuhen ins nasse Gras zu wischen.

      Der Polizist nickte, vergewisserte sich sicherheitshalber aber trotzdem, dass das Schloss an der Vorderseite des Containers nicht aufgebrochen worden war und dass das Klebeband, das anzeigte, dass der Container von der Polizei versiegelt worden war, immer noch unversehrt an Ort und Stelle saß. Man konnte ja nie wissen, was die Presseleute so anstellten.

      »Okay, und jetzt verschwinden Sie!« Er wandte ihnen den Rücken zu und schritt auf seine Position zurück. Groß, aufrecht und in seiner Polizeiuniform vor Autorität strotzend.

      5

      Es war über ein Jahr her, dass er zuletzt hierhergefahren war. Ein Kloß steckte ihm in der Kehle. Er hustete, um ihn wegzubekommen. Warum machte er das? Er hatte seine Strafe gehabt. Sanne hatte ihn verlassen, weil sie mit dem, was er getan hatte, nicht leben konnte – oder vielleicht konnte sie auch eher mit den Schuldgefühlen nicht leben, die ihn seither nicht losließen. Als ihm nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis nahegelegt worden war, Urlaub von seiner Arbeit zu nehmen, auf die er sich ohnehin nicht mehr konzentrieren konnte, hatte sie geglaubt, er würde nun entlassen. Sie hatte geglaubt, dass nun Schluss wäre mit dem schönen Leben, dass das gute Einkommen nun weg wäre – und dann war eben Schluss mit ihr, und sie war weg. Er war weder dazu in der Lage, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, noch vermochte er ihr ein Kind zu schenken.

      Im Gefängnis zu sein, von allen isoliert und wie ein gemeiner Verbrecher behandelt, war völlig gegen seine Natur und gegen alle Grundsätze seiner Erziehung gegangen. Er hatte es als sehr ungerecht empfunden, dass er verurteilt und eingesperrt worden war – bis ihm dann allmählich klar wurde, was er getan hatte. Er war froh, dass sein Vater bereits gestorben war. Sonst hätte er diese Schande wahrscheinlich nicht überlebt. Das senile Gehirn seiner Mutter konnte die Sache sowieso nicht verstehen, auch wenn eine Krankenschwester ihr vielleicht erzählt hatte, was geschehen war und warum ihr Sohn nicht mehr zu den gewohnten wöchentlichen Besuchen kam. Sie würde einfach lächeln und nicken und am obersten Knopf ihrer Bluse fummeln, wenn man ihr davon erzählte. Vielleicht hatte sie seine Abwesenheit ja nicht einmal bemerkt. An seine Mutter zu denken tat genauso weh wie der Gedanke an seine eigenen Leiden und Beschwernisse. Auch sie befand sich in einer Art Gefängnis. Ihrem eigenen Gefängnis. Ein Alter ohne Erinnerungen. Als der Vater starb und sie ins Pflegeheim kam, hatte er erst gemerkt, wie verwöhnt er als Kind gewesen war. Er war es gewohnt gewesen, erst von seiner Mutter bedient und umsorgt zu werden und dann von Sanne, die sich aber zunehmend dagegen verwehrte. Sie hatte es auch nicht leicht mit ihm gehabt.

      Eigentlich war er ganz froh, eine Pause von der Arbeit zu haben. Er konnte die vorwurfsvollen Blicke der Kollegen nicht mehr ertragen. Auch sie waren an dem Abend angetrunken nach Hause gefahren, aber für sie war die Sache gutgegangen. Verdammte Katze! Er konnte nicht damit aufhören, sie innerlich zu verfluchen, auch wenn er sich dessen schämte. Zum Glück war sein Chef auch sein privater Freund, so dass er alles Verständnis der Welt gezeigt hatte. Wäre er nicht mit ihm befreundet gewesen, dann wäre er ohne Zweifel wirklich gefeuert worden. Es war die Idee des Psychologen gewesen, bei dem er Hilfe gesucht hatte – eigentlich hätte er nie geglaubt, dass es einmal so weit kommen würde. Der Psychologe hatte ihm den Rat gegeben, nach Jütland zurückzufahren, als eine Form von Therapie. Es sei das Beste für alle Beteiligten, hatte der Psychologe gesagt, die Angehörigen aufzusuchen und mit ihnen, falls sie es wünschten, ein Gespräch zu führen. Aber er wusste, dass er dazu nie den Mut haben würde und seine Skrupel viel zu groß waren.

      Er stellte fest, dass er gerade an der Stelle vorübergekommen war, wo das Auto vor einem Jahr zum ersten Mal beinahe in den Graben gefahren wäre. Kurz danach passierte er den Unfallort selbst. Instinktiv trat er auf die Bremse, als er einen Jungen sah, der auf dem Fahrradweg fuhr, eine große Sporttasche auf dem Gepäckträger. Bilder von einem Fußball, der wie in Zeitlupe auf die Fahrbahn rollt, flimmerten vor seinen Augen, als handele es sich um eine Filmszene. Der Fußball, wie er unendlich langsam rollt, dann liegen bleibt, noch einen Augenblick leicht hin und her wiegend, als könne er sich nicht entscheiden, ob er nicht doch weiterrollen solle. Ein Anblick, der ihn noch immer wie ein Fluch verfolgte. Plötzlich wusste er, worauf es der Psychologe mit seinem Ratschlag abgesehen hatte. In ihm hatte die ganze Zeit das Bedürfnis geschlummert, den Ort wiederzusehen und die Strecke in nüchternem Zustand zurückzulegen. Vielleicht hoffte er einfach, die Zeit zurückdrehen zu können. Dass es ihm gelang, die Katze zu sehen und rechtzeitig zu bremsen. Oder dass er die verfluchte Katze einfach überfuhr, statt ihr auszuweichen. Wieder bereute er seine Hassgedanken gegenüber der Katze. Das wirklich Verfluchte war schließlich, dass er an jenem Abend nicht über Nacht geblieben war, sondern versucht hatte, die Fähre der »Mols-Linien« zurück nach Seeland zu erreichen.

      Er wollte auch den Ort wiedersehen, wo alles begonnen hatte. Er fuhr nur wenige Minuten weiter, bis er den Jachthafen vor sich sah, mit seinen schönen weißen Booten auf dem blauen Meer, das im Sonnenlicht funkelte. Als er das Schild sah – Restaurant Egå Marina –, bog er auf den Parkplatz ein und parkte.

      Hier hatten sie jenen verhängnisvollen Empfang gehabt, um den Abschluss eines großen Auftrags zu feiern, an dem sie über mehrere Monate hinweg gearbeitet hatten. Er wunderte sich immer noch, dass eine Aarhuser Firma eine Werbeagentur aus Seeland gewählt hatte, wo es doch so viele gute Agenturen in Aarhus gab, aber das hatte bestimmt an ihrem guten Ruf gelegen. Sie hatten im Laufe der Zeit ziemlich viele Werbepreise gewonnen. An jenem Auftrag hatten sie fast ununterbrochen Tag und Nacht gearbeitet, um die Deadlines einzuhalten und um mit den Models, den Fotos und den Filmaufnahmen alles richtig hinzubekommen. Es war eine sehr erfolgreiche Kampagne für mehrere Millionen Kronen gewesen – hatte er sich dann nicht jenen letzten Drink redlich verdient?

      Im Restaurant duftete es nach gegrilltem Fisch und frischem Dill. Er merkte, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Er setzte sich an einen gedeckten Tisch mit Aussicht über den Hafen und hängte seine Jacke über den Stuhl. Obwohl das Restaurant recht voll war, dauerte es nicht lange, bis ein