»Lass uns etwas Kakao trinken, solange er noch warm ist«, sagte sie mit einer Stimme, die sich leicht überschlug.
Sie saßen schweigend und tranken.
»Gestern habe ich das Auto gesehen«, begann Jonas plötzlich.
»Welches Auto?«
»Das Auto, das Rasmus umgebracht hat.«
»Wo hast du es gesehen, Jonas? Was ist das denn für ein Auto? Woher kennst du es?« Es waren viele Fragen auf einmal, aber sie hatte plötzlich das Gefühl, dass es da etwas gab, was er ihr noch nicht erzählt hatte.
Jonas saß da und blickte auf seine Strümpfe. »Damals, als Rasmus nicht wie verabredet in die Sporthalle gekommen ist, bin ich rausgegangen, um nach ihm Ausschau zu halten«, fing er zögernd an. »Da habe ich das Auto gesehen, das ihn getötet hat. Als ich dort hin bin, stand es neben dem Krankenwagen und den Polizeiautos.«
Sowohl Jonas als auch Rasmus waren Autofans gewesen. Sie lasen Autozeitschriften, studierten Zeitungsinserate mit Autos und kannten fast alle Marken und Modelle auswendig. Kamilla hatte die zwei kleinen Jungen wegen ihres Wissens auf diesem Gebiet oft bewundert.
»Was für ein Auto war es, Jonas?«
»Es war ein Opel Vectra GTS, in Dunkelblau.«
»Bist du dir ganz sicher, Jonas? Es ist schließlich über ein Jahr her, dass du das Auto gesehen hast.«
Er wischte sich mit seinen schmutzigen Fingern die Tränen weg und schmierte sich den Dreck über das ganze Gesicht. Seine Nase lief. In die blauen Augen unter den hellen Locken trat ein trotziger Ausdruck. »Ich bin mir ganz sicher! Ich habe es vorbeifahren sehen. Ich hasse dieses Auto!«
Kamilla blickte in das schmutzige Gesicht des Jungen. Der Wunsch nach Rache leuchtete in seinen Augen. War sie der einzige Mensch, der Rasmus’ Tod nicht rächen wollte? Oder wollte sie es vielleicht doch, in ihrem Innersten? Sie zog den Pullover enger um sich. Ihr war plötzlich kalt und sie überlegte, ob sie Jan etwas von der Sache sagen sollte. Sollte sie ihn bei der Suche unterstützen, ihren Beitrag dazu leisten, den Menschen, den er den Mörder seines Sohnes nannte, weiter zu bestrafen? Sie schüttelte den Gedanken ab. Das Ganze war sicher ein Zufall. Einfach nur ein ähnliches Auto.
Es kostete Kamilla etwas Überredungskraft, Jonas ins Badezimmer zu bugsieren; er sollte sich das Gesicht waschen und dann nach Hause gehen. Doch er erzählte ihr, dass er zu Hause ganz allein sei und eigentlich zu den Nachbarn hätte hinübergehen sollen, langweilige Leute, da sei er viel lieber hier bei ihr. Von seinen Worten berührt, rief sie die Nachbarn an, um ihnen mitzuteilen, dass Jonas bei ihr war. Nachdem sie das Gespräch mit dem älteren Ehepaar erledigt hatte, verspürte sie Hunger. Schon wieder war nun fast ein ganzer Tag vergangen, an dem sie kaum etwas gegessen hatte. Jonas hatte nach dem vielen Sport bestimmt ebenfalls Hunger, aber sie hatte nicht daran gedacht, irgendetwas zum Auftauen aus der Tiefkühltruhe zu nehmen.
»Hast du Lust, irgendwohin essen zu gehen?«, fragte sie.
Jonas’ Gesicht erhellte ein breites Lächeln. »So in einem richtigen Restaurant mit Kellner und so weiter?«, hakte er misstrauisch nach. Es klang nicht gerade, als sei er es gewohnt, an solche Orte mitgenommen zu werden.
»Wir können zum Restaurant Egå Marina fahren, dort ist es sehr gemütlich«, sagte sie, wobei sie sich zugleich überlegte, warum sie gerade dieses Restaurant gewählt hatte.
Es waren nicht viele Gäste da, so dass es nicht schwer war, einen freien Tisch zu finden. Sie bestellte für Jonas ein Fischfilet mit Remouladensoße sowie eine Cola und für sich eine Fischsuppe mit Brot. Während sie auf ihre Suppe wartete, betrachtete sie Jonas, der wortlos seinen Fisch vertilgte. Er erinnerte sie in so vieler Hinsicht an Rasmus. Nur, dass Rasmus bestimmt nicht ohne ein einziges Wort hätte dasitzen und essen können. Er hätte ständig geredet und in einem fort gelacht. Sie ließ ihren Blick über die anderen Gäste schweifen. Da entdeckte sie die beiden. Als Majken sich ein wenig zurücklehnte, sah Kamilla, dass sie mit ihm zusammen war – Danny. Für einen Augenblick nahm ihr der Kellner die Sicht, der nun die warme Suppe vor sie hinstellte. Sie schöpfte einen Löffel voll und richtete ihren Blick wieder auf das Paar am Fenster. Sie sahen nicht so aus, als würden sie sich für die Welt um sie herum interessieren. Sie könnte jetzt zu ihnen hingehen und sie begrüßen, aber irgendetwas hielt sie zurück. Vielleicht die lähmende Empfindung von Eifersucht. Jetzt ist Majken an der Reihe, sagte sie sich. Das war nichts, worüber sich zu grämen es einen Grund gab. Ganz im Gegenteil.
Jonas war mit seinem Fischfilet fertig. Sie schöpfte den letzten Löffel Suppe und er trank seine Cola aus.
»Komm, gehen wir«, sagte sie und stand auf. Sie bezahlte bei einem zufällig vorbeikommenden Kellner. Jonas lief zum Auto. In der Tür drehte sie sich um. Sie wollte ihn noch einmal sehen. Plötzlich hob er den Blick und starrte sie an. Rasch schloss sie die Tür.
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