Kriminalkommissar Roland Benito war bereits eingetroffen und begrüßte ihn mit einem Kopfnicken, als er den Container erreichte. Sie hatten einander lange nicht gesehen, und die Stimmung reichte nur für das formelle Nicken.
»Es ist ein kleines Mädchen«, sagte Roland. Es klang wie eine Warnung. Ein Beamter von der kriminaltechnischen Abteilung war in weißer Schutzkleidung, mit Plastiküberzügen über den Schuhen und mit einer Kamera in der Hand in den Container geklettert. Die Blitzlichter leuchteten in der Dunkelheit auf. Der Container war so eng, dass immer nur einer hineinpasste. Endlich kletterte der Kriminaltechniker heraus und bedeutete ihm mit einem Nicken, dass er mit seiner Arbeit fertig war. Ungeschickt kletterte nun Leander in den Container. Die Öffnung befand sich etwa einen Meter über dem Boden, und sein Fuß versank im Abfall, als er hineintrat. Etwas Feuchtes drang durch seine Socke. Er roch sofort die Verwesung und dachte an Ratten. Er verabscheute Ratten mehr als alles andere. Ratten konnten eine Leiche bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Das konnte zum einen die Identifikation verzögern. Zum anderen war es kein schöner Anblick.
Er knipste die Taschenlampe an. Das Mädchen lag gebettet wie auf einer Bahre von schwarzen Abfallsäcken. Ihre Augen fixierten das Dach des Containers, als hätte etwas dort oben ihren Blick zum Erstarren gebracht. Spontan blickte auch er nach oben und schlug mit dem Hinterkopf gegen die Containerdecke. »Au, verflixt!«, rief er.
»Ist etwas passiert?«, fragte Roland und steckte den Kopf durch die Öffnung. Leander hatte die Taschenlampe verloren. Der Lichtkegel leuchtete schräg ins Gesicht des toten Mädchens und warf groteske Schatten – wie wenn sich Kinder auf ihr Kinn leuchten, um sich gegenseitig in der Dunkelheit zu erschrecken.
Leander hob die Taschenlampe auf und hockte sich neben das Mädchen, nachdem er nun schmerzhaft erfahren hatte, dass man im engen Container nicht aufrecht stehen konnte. Vorsichtig strich er die schlammigen Haare von ihrer Wange und verlor beinahe wieder die Lampe, als er sah, wie ein schwarzer Käfer eilig vom Ohr des Mädchens krabbelte und sich zwischen fauligen Blättern versteckte. Leander zog eine Grimasse, als er ihn als einen Vertreter der Gattung Necrodes littoralis erkannte – auch Totengräber genannt. Seit vielen Jahren waren Insekten sein großes Hobby. Auch das fanden die meisten Frauen bizarr. In einer Ecke im Keller hatte er einen kleinen Raum mit Brettern und Regalen eingerichtet, die voll von Gläsern und Terrarien mit Insekten waren. Einige hatte er selbst in der Natur aufgelesen, andere wurden im Keller ausgebrütet und hatten das Leben draußen nie kennengelernt. Dennoch behielten sie ihre Instinkte und ihre gewohnte Lebensart bei, und genau das faszinierte ihn. Ein Insekt kann sehr viel über das Alter einer Leiche verraten. Eier und Puppen entwickeln sich innerhalb eines exakten Zeitschemas zu Insekten, und er hatte so viel über das Thema gelesen, dass er die Entwicklungsstadien auswendig wusste, obwohl sie auch von den Temperaturen und der Luftfeuchtigkeit vor Ort abhängig waren. Er leuchtete mit der Taschenlampe im Container umher. Wie es hier um die Luftfeuchtigkeit bestellt war, war unschwer festzustellen. Nasse Tropfen troffen an den Seiten des Containers herab. Der verregnete Sommer draußen sorgte hier drinnen für ein ganz eigenes Klima. »Wie lange ist sie schon tot?«, fragte Roland draußen vor der Öffnung und Henry Leander blickte nach oben.
»Rigor Mortis ist eingetreten. Die Leichenstarre beginnt nach zwei bis vier Stunden einzusetzen. Ihr ganzer Körper ist bereits steif, das heißt, dass es auf jeden Fall mehr als acht Stunden her ist. Allerdings ist das bei einem so kleinen Körper schwieriger zu beurteilen. Aber ich kann präzisere Angaben machen, sobald ich sie bei mir in der Rechtsmedizin habe. Das Mädchen ist ungefähr zehn Jahre alt. Mit bloßen Händen erwürgt.«
Er hob die steife Hand des Mädchens an und drehte sie im Licht der Taschenlampe. »Sieht aus, als ob sie festgebunden gewesen wäre«, murmelte er und zeigte auf die wohl von einem Seil herrührenden roten Streifen an beiden Handgelenken. Roland schaute in die andere Richtung.
Henry Leander unten im Container blieb einige Zeit lautlos. Roland kannte seinen alten Freund. Sie hatten viele Jahre zusammengearbeitet, und er wusste, dass der Rechtsmediziner jetzt wie ein Spürhund das tote Mädchen untersuchte, obwohl hier weiß Gott nicht die beste Umgebung dafür war. Mit einem Ausdruck des Unbehagens im Gesicht kletterte Leander schließlich aus dem Abfallcontainer. Roland reichte ihm seinen Arm als Stütze.
»Pfui, wie abscheulich, ein Kind an so einem Ort abzulegen!«
Roland antwortete nicht. Sie hatten beide schon vieles erlebt und gesehen – insbesondere in ihrer gemeinsamen Zeit in Kopenhagen –, aber glücklicherweise war es lange her, dass sie mit einer Aufgabe wie dieser konfrontiert worden waren.
Das rot-weiß gestreifte Absperrband der Polizei flatterte im Wind um den Container. Sie gingen ein paar Schritte zur Seite. Leander zog die weißen Latexhandschuhe aus und schob sich die Nasenschutzmaske unter das Kinn. Beide schwiegen und dachten an das, was sie gerade im Container gesehen hatten.
Sobald sie den Fundort der Leiche verließen, zündete sich Roland Benito eine Zigarette an. Er musterte Leander, wobei er – wegen des Rauchs – die Augen zusammenkniff. Ein totes Kind war seiner Ansicht nach der schlimmste Anblick, dem man überhaupt ausgesetzt werden konnte.
»Hast du etwas von Bedeutung gefunden?«
»Da ließ sich nicht viel machen – mit Schutzanzug, Handschuhen und Nasenschutzmaske. Es gibt da drinnen so viel Dreck, Gartenabfall und allen möglichen Mist. Wir müssen den Container genauer untersuchen, wenn wir das Mädchen herausgenommen haben.«
Roland nickte. »Natürlich.« Er nahm einen tiefen Zug.
Den Edwin Rahrs Vej entlang hatten die Leute angefangen, falsch zu parken. Sie glotzten aus den Autofenstern oder standen neben den Autos und verfolgten das Geschehen am Container. Roland war sich darüber im Klaren, dass der Mord nicht mehr lange geheim gehalten werden konnte.
»Leider muss ich davon ausgehen, dass es sich um ein Sexualverbrechen handelt«, sagte er, während er mit finsterem Blick nach Leuten Ausschau hielt, die es wagten, über die Absperrbänder zu steigen. Er hatte Angst vor den Reaktionen in der Stadt. Schon ein Kindermord drüben in Kopenhagen, weit weg auf der Insel Seeland, konnte die Bevölkerung hier tief erschüttern. Was würde dann ein Kindermord in ihrer eigenen Stadt auslösen – Aarhus, gütiger Gott, auch »Stadt des Lächelns« genannt? Er sah schon die fettgedruckten Überschriften auf den Titelseiten der Tagespresse. Kindermord in der Stadt des Lächelns. Kleines Mädchen erdrosselt in Container aufgefunden. Und warum in einem Container gerade hier im Problembezirk Gellerup? Kein Zweifel, dass viele die Gelegenheit nutzen würden, den Vorfall mit den vielen Ausländern, der Gewalt und der hohen Kriminalitätsrate in diesem Bezirk in Zusammenhang zu bringen. Nicht gerade das Beste, was dem ohnehin schon vom Schicksal geschlagenen Viertel passieren konnte.
»Das Mädchen ist aber ganz normal angezogen. Nur ihre Beine sind nackt – und die sockenlosen Füße in den weißen Sandalen«, antwortete Leander.
Roland kam das eigenartig vor. Das Wetter diesen Sommer war für nackte Beine nicht gerade vorteilhaft. Zum Teufel mit den Pädophilen, dachte er. Wenn es nach ihm ginge, sollten sie sich ruhig nackte Kinderkörper anschauen, so viel sie wollten – auch wenn er selbst es pervers fand –, wenn sie die Kleinen nur in Ruhe ließen und nicht zur Ursache dafür wurden, dass