Maurizio Piseri stellt in seinem Beitrag die grundlegende Frage nach der Verteilung der Lesefähigkeit und zieht auf der Suche nach einer Antwort die Ergebnisse demografischer Erhebungen aus der napoleonischen Zeit heran, um die schulische Versorgung im unteren Aostatal zu rekonstruieren.12 Dabei zeichnet er eine spezifische Form einer „alpinen Alphabetisierung“ nach.13 Verstärkte kommunale Bestrebungen, eine schulische Grundversorgung für möglichst viele Kinder zu sichern, korrelieren ihm zufolge mit erhöhter ökonomischer Prekarität. Gerade die Siedlung in Räumen, die aufgrund ihrer klimatischen Gegebenheiten und ihrer Bodenbeschaffenheit für eine Subsistenzwirtschaft nicht geeignet waren und die Ausübung eines Zusatzgewerbes notwendig machten, erforderte demnach ein gewisses Maß an schulischer Bildung. Wer Dienstleistungen und/oder Produkte auf einem überregionalen Markt anbieten musste, sah sich – so erklärt Piseri – in besonderem Ausmaß auf das Beherrschen von in der Regel schulisch vermittelten Kulturtechniken angewiesen. Erschöpfenden Aufschluss über die Lesefähigkeit der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen vermögen derartige Studien zwar nicht zu geben, und selbst eine mit Sicherheit bestimmbare Alphabetisierungsrate ließe lediglich begrenzte Rückschlüsse auf den potentiellen Wirkungsbereich von Texten zu. Ohne Zweifel jedoch stellen Grundlagenstudien dazu, wer denn überhaupt zu welchen Zeiten lesen konnte, einen wichtigen Ausgangspunkt für weiterführende Fragen zur Geschichte des Lesens und des Buchwesens dar.14
Während im Zeitraum, mit dem sich dieses Heft beschäftigt, einerseits die Ausbildung einer Lesefähigkeit erwünscht war und auch vonseiten der Obrigkeiten gefördert wurde – man denke etwa an die Einführung einer Schulpflicht in den Habsburgischen Erblanden durch die Allgemeine Schulordnung von 1774 –,15 gab es andererseits parallel dazu auch Bündel von Maßnahmen, die auf eine Einschränkung des Lesens abzielten. Diesem Phänomen widmet sich der Beitrag von Daniel Syrovy aus vorrangig literaturwissenschaftlicher Sicht. Die „Freiheit der Leser*innen“ bedurfte, da waren sich religiöse und staatliche Autoritäten einig, klar definierter Grenzen, immerhin war beziehungsweise ist das Lesen ein grundsätzlich „rebellischer“ Akt, wie auch Roger Chartier findet.16 Anhand der habsburgischen Zensurpolitiken in der Lombardei und im Veneto zeigt Syrovy zunächst die konzeptionelle Entwicklung der Zensur von einem didaktischerzieherischen, volksaufklärerischen Ansatz zu einer vor allem auf die Erhaltung der staatlichen Integrität ausgerichteten Polizeimaßnahme. In einem nächsten Schritt veranschaulicht der Beitrag, wie ausgeprägt die Gestaltungsfreiheit in den oberitalienischen Territorien auf dem Weg zur Erreichung des vermeintlich absoluten Zieles der Abwehr revolutionärer Tendenzen war. Gleichgültig, was nun seine konkrete Intention oder wie seine regionale Ausgestaltung gefärbt gewesen sein mag, die Auswirkungen des Zensursystems auf die Entwicklung des literarischen Feldes waren enorm. Die Vorstellung, Zensur bewirke lediglich, die Verbreitung bestimmter Lesestoffe zu unterbinden, greift zu kurz. Das Wissen um die Mechanismen der Zensur prägte die Arbeit von Autor*innen, Verleger*innen und Buchhändler*innen ebenso wie das Verhalten der Konsumentinnen und Konsumenten von Druckwerken – von der Kaufentscheidung über den Umgang mit dem Gegenstand Buch bis hin zum konkreten Akt des Lesens selbst. Bücher lesen zu können war also nicht allein von individuellen Fähigkeiten abhängig, sondern maßgeblich auch von außen beeinflusst.
Zwei Beiträge in diesem Themenheft widmen sich schwerpunktmäßig der Frage nach der Verbreitung von Büchern im 18. Jahrhundert beziehungsweise dem Zugang zu diesen.17 Methodisch sind sie jedoch gänzlich unterschiedlich angelegt: Liliana de Venuto untersucht das Verlags- und Druckereiwesen sowie private und öffentliche Bibliotheken im Trentino und konzentriert sich dabei vorrangig auf die Städte Trient und Rovereto sowie in zweiter Linie auf das Etschbeziehungsweise Lagertal. Die verschiedentlich diagnostizierte „Leserevolution“ im Europa des 18. Jahrhunderts18 verortet sie auch in dieser Region. Besonders der Lesehunger der adeligen und/ oder bürgerlichen (Funktions-) Elite, die – gefördert durch aufklärerisch motivierte obrigkeitliche Maßnahmen – sich zunehmend verbreiterte und zugleich professionalisierte, bedeutete einen Aufschwung für Buchproduktion und -handel in der Region. Damit verbunden war außerdem eine beträchtliche Zunahme der Zahl der Bibliotheken und eine Diversifizierung ihrer Typen. Zusätzlich zu den traditionellen Büchersammlungen geistlicher Persönlichkeiten und religiöser Institutionen sowie den Fachbibliotheken Einzelner aus Berufsbereichen wie Recht, Medizin oder Pharmazie bildeten sich vermehrt Büchersammlungen heraus, die auf allgemeinere Studien- oder Vergnügungszwecke ausgerichtet waren. Besonders hervorzuheben ist dabei die Bedeutung der Mitglieder der Mitte des 18. Jahrhunderts in Rovereto gegründeten Accademia degli Agiati. Sowohl die Bibliothek der Gelehrtenakademie selbst als auch die Büchersammlungen einzelner Mitglieder waren in ihrem Umfang beträchtlich. Ihre Untersuchung erlaubt Einblicke in einen kleinen Teil der Republic of Letters und eröffnet zugleich eine spezielle Perspektive auf die tiefgreifenden Umwälzungen auf verwaltungs- und/oder politikgeschichtlicher Ebene.
In ganz anderer Art und Weise beschäftigt sich der Beitrag von Michael Span mit dem Besitz von Büchern. Er berichtet von Ergebnissen des Forschungsprojektes Reading in the Alps, das dem privaten Buchbesitz im katholisch dominierten Alpenraum im 18. Jahrhundert nachspürt. Grundlage der in diesem Heft präsentierten Resultate bildet die mikrohistorische Untersuchung von (vorwiegend Verlassenschafts-) Inventaren aus dem im Pustertal rund um die Stadt Bruneck liegenden Landgericht St. Michaelsburg. Aufgrund der Erhebung einer ganzen Reihe personenspezifischer Daten – Namen, Verwandtschafts- beziehungsweise Familienverhältnisse, Berufe, Wohnorte sowie auch Vermögenswerte – werden ausgehend von der basalen Bestimmung des Anteils an Inventaren, die Buchbesitz nennen, weitere aufschlussreiche Differenzierungen möglich. Das Ergebnis ist ein Stück Grundlagenforschung, wie sie Roger Chartier als nach wie vor „notwendig“ für die Buch- und Leser*innengeschichte bezeichnet hat,19 und auf die weiterführende Untersuchungen zurückgreifen können. Deutlich zeichnen sich bereits in diesem hier vorgestellten Datenmaterial Tendenzen der Verteilung von Buchbesitz anhand unterschiedlicher Parameter wie Gender, Berufsgruppe sowie vor allem sozioökonomischer Kennzahlen ab. Wenngleich bibliografische Angaben in den Inventaren meist sehr spärlich sind, so lassen sich doch auch Aussagen zu den am stärksten verbreiteten und damit mutmaßlich wohl beliebtesten Lesestoffen treffen. Gegen ein allgemein gültiges Muster sperren sich jedoch hier wie dort Einzelfälle, deren Detailstudium als Forschungsdesiderat unterstrichen wird. In diesem Sinne möge der vorliegende Beitrag Anregung zu zahlreichen weiterführenden Betrachtungen sein.
Wie facetten- und aufschlussreich eine solche Einzelstudie sein kann, zeigt Peter Andorfer in seinem Beitrag auf.20 Die Grundlage für seine Ausführungen bildet eine überaus außergewöhnliche Quelle, nämlich die Aufzeichnungen des Leonhard Millinger, eines Bauern aus Waidring, einem Tiroler Dorf an der Grenze zu Bayern und Salzburg im Landgericht Kitzbühel. Dieser verfasste Anfang des 19. Jahrhunderts eine „Weltbeschreibung“, in der er in enzyklopädischer Weise Inhalte aus mehreren unterschiedlichen Büchern kompilierte. Indem er seine Quellen dezidiert benennt, ergeben sich seltene Einblicke in das Leseverhalten eines Bauern dieser Zeit. So zeigt sich nicht nur, dass Millinger bestimmte Bücher beziehungsweise Passagen aus Büchern gelesen hat, sondern auch, welche der darin enthaltenen Informationen er als wert erachtete, erinnert zu werden. Die (scheinbaren) Diskrepanzen zwischen den wahrscheinlichen Intentionen der Autoren der Bücher und dem Sinn, den Leser Millinger ihren Texten für sich gab, sind zuweilen beträchtlich. Sie zeigen die bereits angesprochene „Freiheit der Leser*innen“ eindrucksvoll und erinnern daran, wie wichtig die Abkehr von der Vorstellung werkimmanenter Interpretationen