Der Karte zufolge müsste Nummer 85 das letzte Haus in der Straße sein. Ein scharfer Wind wehte, ihre Wangen brannten, und ihre Augen tränten. Sie hatte sich den Schal um das Gesicht gewickelt und hielt den Kopf gesenkt. Vor dem ersten Haus sah sie zur Hausnummer hinauf, wo sie stattdessen ein ovales Glasfenster in Brusthöhe sah, falls man eine Brust hatte, die ungefähr 165 cm über den Fußsohlen saß. Sie glaubte fast, ebenfalls die perfekten Brüste sehen zu können ‒ die werden später wieder abgenommen, hatte der Mann mit gleichgültigem Schulterzucken gesagt, wenn das große Geld nicht mehr hereinkommt. Dabei bleiben nur zwei winzige Narben zurück.
Monika musste ihre Aufmerksamkeit ins Jetzt zurückzwingen ‒ dieses Fenster hier war leer, Erik Olsson hatte nicht vor dieser Tür gestanden, und die Frage war jetzt nur noch, ob die Hausnummer sich als Nummer 87 erweisen würde. Auch Nummer 85 hatte ein Fenster in der Tür, das jedoch viereckig war und durch das ein großer und spärlich geschmückter Weihnachtsbaum zu sehen war. Die Christbaumkerzen erfüllten die Eingangshalle mit einem sanften Licht, das über einen langen roten Perserteppich fiel. Dieser Teppich begann an der Haustür und erweckte den Eindruck, das Haus werde nur von VIPs betreten, die gebührend empfangen werden mussten. Monika war nicht in der passenden Stimmung, um prachtvolle Eingangshallen genießen zu können, sondern gab rasch den Code ein, wobei sie beinahe damit rechnete, dass sie den falschen hatte.
Zu ihrer Überraschung und Erleichterung hörte sie sofort ein leises Klicken im Schloss, schob die schwere Eichentür auf und blieb stehen. Die Halle war nicht nur gastlich und warm, sie duftete außerdem nach Apfelsinen und Nelken.
Monika wollte schon kehrtmachen und wieder hinausgehen, folgte dann aber dem dicken Teppich zum Weihnachtsbaum, der mit duftenden Apfelsinen und geschnitzten Weihnachtsmännchen, Engeln und Schlitten fahrenden Kindern geschmückt war. Der Schmuck sah alt und teuer aus, und sie fragte sich, wie es möglich war, dass die Hausbewohner sich nicht im Vorübergehen das eine oder andere Stück in die Tasche steckten. Ihr war klar, dass dieser Baum in ihrem eigenen Treppenhaus innerhalb von wenigen Stunden kahl gewesen wäre.
Derselbe Gedanke kam ihr im Fahrstuhl, einer gepflegten Antiquität, die bestimmt annähernd hundert Jahre alt war. Irgendein wildes Kind hätte ihn innerhalb von wenigen Minuten zerstören können ‒ die Spiegel einschlagen, den roten Samtsitz von der kleinen Bank reißen, Leisten und Täfelung verbiegen. Offenbar war während des vergangenen Jahrhunderts hier kein wildes Kind vorübergekommen. Monikas verbrechenssoziologische Überlegungen wurden davon unterbrochen, dass der Fahrstuhl im vierten Stock anhielt und ein älterer Mann in einem dunklen Anzug die Tür öffnete. Er wollte weder nach oben noch nach unten, wie sich herausstellte, sondern schien einzig und allein aufgetaucht zu sein, um sie einige Meter über den Marmorboden und durch eine offene Tür zu geleiten.
Sie betrat eine Wohnung, die mehr Quadrat- und Kubikmeter zu umfassen schien als ein geräumiges Wohnhaus. Der Mann im Anzug führte sie in ein kleineres Zimmer, das offenbar als Garderobe diente. Vielleicht war diese Wohnung ursprünglich für Menschen gebaut worden, die häufiger dreißig oder vierzig Gäste zum Essen erwarteten.
In der Garderobe war nur eine breitschultrige Frau, die sich aus einem langhaarigen Pelz schälte. Schließlich drehte sie sich um und sagte unerwartet überschwänglich:
»Hallo! Ich bin Cilla!«
Ihr kleines, rundes Gesicht war mit roten Flecken übersät und ihre Haare waren hellbraun. Cilla kam ihr bekannt vor, und Monika versuchte sich zu erinnern, wo sie sich begegnet sein könnten. Dann ging ihr auf, dass Cilla sie an eine alte Klassenkameradin erinnerte ‒ eine große Person ohne jeden Charme, die die tonangebende Clique in der Klasse immer begeistert begrüßt hatte, obwohl sie nur selten Antwort bekommen hatte, und die noch immer zu den Pfadfindern gegangen war, als die anderen schon längst damit aufgehört hatten. Monika hatte damals ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie dieses Mädchen nicht leiden konnte, und deshalb lächelte sie jetzt freundlicher, als sie es sonst getan hätte.
»Monika.«
Sie wurde ein wenig nervös, während sie sich weiterhin über diesen verlorenen Abend ärgerte. Wo war sie hier nur gelandet? Oder wobei? Sie konnte Cilla oder den Mann, der die Tür geöffnet hatte, ja wohl kaum fragen ‒ und würde der Mann sie jetzt weiter geleiten? Oder hatte er nur verhindern wollen, dass sie den Blumenschmuck mitgehen ließ? Rasch hängte Monika ihren Mantel auf und stellte fest, dass der Mann tatsächlich als Fremdenführer diente.
Sie durchquerten das größte Wohnzimmer, das Monika je in einer Privatwohnung gesehen hatte, bevor sie ein fast ebenso großes Esszimmer erreichten. Mitten im Zimmer stand ein dunkler Holztisch, der vermutlich ideal war für intime Imbisse mit den zwanzig besten Freunden, der an diesem Abend jedoch nur acht Stühle an der einen Querseite aufwies. Sechs davon waren bereits von vier Frauen und zwei Männern besetzt.
Für Monika ergab die ganze Szene keinen Sinn ‒ sie sah Mineralwasser, alkoholfreies Bier, Teller, kleine elegante und trendgemäß belegte Brote. Zwei Tischmikrofone waren an ein Tonbandgerät angeschlossen, wie es auch die Polizei verwendete. Eine Frau mit üppigen schwarz gefärbten Haaren, großem roten Mund und eng sitzendem blauen Kleid in Größe 44/46 erhob sich und kam auf sie zu.
»Willkommen, willkommen! Ich bin Agnes Videgård, die Gastgeberin. Bitte, nehmen Sie Platz, jetzt sind wir ja vollzählig und können anfangen, wie schön! Greifen Sie zu, wenn Sie Appetit auf einen Bissen haben oder etwas trinken möchten.«
Eine Frau reichte Teller herum, während eine andere Monika fragte, ob sie Wasser oder Bier wolle.
Monika machte sich ernsthafte Sorgen ‒ sie wusste, dass Mikael sie nicht zu wirklich unangenehmen Dingen wie zum monatlichen Treff einer SM-Gruppe oder einem religiös geprägten Nähkränzchen schicken würde, aber sie konnte sich nicht vorstellen, was für eine Art von Treffen das hier sein sollte oder warum sie unbedingt daran teilnehmen musste.
Dann wurden die Brote herumgereicht und die Gläser gefüllt, und die Gastgeberin lächelte freundlich in die Runde.
»Danke, dass Sie heute Abend gekommen sind ‒ ich weiß, dass Sie alle viel zu tun haben, deshalb wissen wir das ganz besonders zu schätzen. Ich weiß aber auch, dass es Ihnen wichtig ist, uns dabei zu helfen, für unsere kleinen und großen Freunde das Beste zu finden.«
Alle außer Monika schienen zu wissen, wovon hier die Rede war, und einer Meinung zu sein. Sie nickten und lächelten, und Monika ertappte sich dabei, wie sie ebenfalls nickte und lächelte.
»Ja, ich dachte, wir könnten zuerst eine Vorstellungsrunde machen und von unseren lieben Freunden erzählen.« Sie schaute einen Mann von Mitte dreißig, der rechts von ihr saß, auffordernd an.
Der Mann nickte, ein warmes, charmantes und geübtes Lächeln. Plötzlich wusste Monika, wer er war ‒ er hatte in einer Endlosserie im Fernsehen eine Endlosrolle, allerdings nicht in der, in der Lottie die Großmutter gespielt hatte.
»Jan Andersson. Von Beruf stattlicher junger Mann, nein, Schauspieler, um korrekt zu sein. Ich wohne mit Glücksklee zusammen ‒ ich habe ihm diesen Namen gegeben in der Hoffnung, dass er großen Reichtum mitbringen würde, was er auch getan hat, aber ich hatte dabei vor allem an materiellen gedacht, was jedoch nicht der Fall war. Er ist eine englische Bulldogge ‒ Sie wissen sicher, wie die aussehen, kurz, breit, mit Unterbiss und phänomenaler Ausstrahlung.«
Die Gastgeberin sah entzückt in die Runde. »Glücksklee. Was für ein origineller Name. Und wie alt ist Glücksklee?«
»Er wird in ein paar Tagen vier, und dann gibt es ein Fest.«
»Danke, Jan.«
Die Gastgeberin richtete ihren Blick auf die nächste Teilnehmerin, eine kleine zarte, grauhaarige Frau. Die Frau erzählte, sie sei Richterin am Obersten Gericht und Frauchen des fünfjährigen Nestor, eines Borsoi, also eines russischen