Ein Seufzer entwich seiner Brust. „Ach, Till. Was könnte ich tun, um Maja ein einziges Mal die Farben zu zeigen?“
„Suche den Ostervogel und bitte ihn um ein schwarzes Ei.“
Mika glaubte, Ohrensausen zu haben. Oder Halluzinationen. Das konnte unmöglich Till gewesen sein, der da gesprochen hatte. Träumte er? Noch bevor er Till fragen konnte, löste dieser das Rätsel: „Wenn der Wunsch, anderen zu helfen, aus tiefem Herzen kommt, können wir eure Sprache verstehen und sprechen.“
Mika meinte: „Mann, Till. Ich fass’ es nicht. Mein Till kann sprechen!“ Mika wollte auf der Stelle zu Maja, um ihr davon zu berichten. Die Nachricht käme einer Sensation gleich.
Doch Till warnte: „Du darfst zu niemandem ein Wort darüber verlieren. Zu niemandem.“ Dann erklärte Till, was es mit dem Ostervogel und dem schwarzen Ei auf sich hatte: „Schwarze Eier sind sehr selten und äußerst schwer zu finden. In ihnen befinden sich sämtliche Farben der Welt. Hält ein Blinder ein solches Ei in Händen, wird er durchströmt von den darin befindlichen Farben.“ Hier machte Till eine Pause, ehe er fortfuhr: „Also wird er die Farben sehen können. Und dieser Zauber entfaltet sich nur in der geheimnisvollen Osternacht.“
Mit offenem Mund hatte Mika Tills Ausführungen gelauscht. Hoffnung machte sich in ihm breit. „Und werden Blinde dadurch wieder sehend?“
„Nein, sie bleiben weiterhin blind. Es wird ihnen ein einziges Mal der Wunsch erfüllt, Farben zu sehen, ein Wunsch, den viele Blinde haben. Und dieses Erlebnis werden sie ein Leben lang nicht mehr vergessen genauso wenig wie die Farben.“
Mika überlegte. Morgen war schon Ostersonntag. Würde er es noch schaffen, das schwarze Ei zu suchen? Für einen Moment lang hegte er Zweifel, die er beiseite wischte und fragte: „Till, wo finde ich dieses schwarze Ei?“
Till erklärte: „Folge in der Osternacht dem Bim, Bim Bam, Bam, Bim, Bim der Osterglocken. Sie weisen dir den Weg.“
Mika kannte nur Kirchenglocken. „Was sind Osterglocken?“
„Es sind Blumen, die um die Osterzeit herum blühen.“ Er rief Mika ans Fenster: „Sieh dort unten die gelben und weißen Blumenbüsche. Solche wachsen ebenso in Parks und auf Wiesen. Ihr Geläut führt dich zum Ostervogel.“ Es war, als könnte Till Gedanken lesen. „Der Ostervogel vertraut nur Kindern das schwarze Ei an. Keinem Erwachsenen. Und nur Kinder sind in der Lage, das Läuten der Osterglocken zu hören.“
Somit hatte sich Mikas Wunsch, ein Elternteil könne ihn zum Ostervogel begleiten, zerschlagen. Nach einem „Mach dich auf den Weg“ war kein Ton mehr aus Till herauszubringen.
Am Himmel lugte ein halber Mond auf die Erde herab, als Mika aufbrach. Sich ohne Wissen seiner Eltern davonschlich. Er schlug den Weg zu den Wiesen und Felder ein. Vorbei am Waldrand, wo der Nachtvogel sein Revier durchstreifte. Mit gespitzten Ohren horchte Mika in die Nacht. Außer einem brummenden Flugzeug und Geraschel im Unterholz vernahm er nichts. Von einem Bim, Bim, Bam, Bam, Bim, Bim kein Ton. Mika lief weiter. Immer weiter. Längst hatte er die Orientierung verloren, wusste nicht mehr, wo er sich befand. Nichts als Stille und Dunkelheit um ihn herum. Ihm war unheimlich und sein Mut schwand dahin.
Dann, er traute seinen Ohren kaum, als von fern ein zartes Geklingel ertönte, das stärker und stärker wurde. Aufgeregt lief Mika dem Läuten entgegen. Immer geradeaus. Dieses Geläut schwoll zu glockenheller Musik an, die so lieblich in seinen Ohren tönte. Und plötzlich war es taghell geworden. Mika war überwältigt. Soweit er blicken konnte, nichts als blühende Osterglocken, die ihre Blütenköpfe hin und her schwangen. Im Takt des Bim, Bim, Bam, Bam, Bim, Bim.
Dann erblickte er den Ostervogel, der Ähnlichkeit mit einem Pfau zu hatte. Gebannt sah Mika dem Ostervogel entgegen, wie er in majestätischer Manier und buntem Gefieder durch die Blumenreihen schritt, die sich vor ihm verneigten. „Willkommen Mika im Reich des Ostervogels. Du möchtest deiner Schwester einen Wunsch erfüllen?“
„J-j-j-ja“, stammelte Mika. „Ich … ich möchte für meine Schwester ein schwarzes Ei abholen.“
Der Ostervogel lächelte ihm wissend zu. „Komm mit.“
Gemeinsam durchschritten sie die Blumenfelder, bis sie vor einer tiefen Mulde haltmachten. Die Mulde war vollständig ausgekleidet mit den Federn des Ostervogels und darin lagen drei schwarze Eier so groß wie Pfaueneier. Der Ostervogel entnahm dem Nest vorsichtig ein Ei und überreichte es Mika. „Für deine Schwester.“
Mikas Hände zitterten, als er das schwarze Oval mit seinen Fingern umschloss, diesen unendlich kostbaren Schatz. Seine kleinen Hände bargen die Farben der Welt, die er Maja zu Ostern schenken würde.
Katharina Britzen, geboren 1954, lebt derzeit in Irrel, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne und zwei Enkelkinder. Veröffentlicht hat sie schon einige Beiträge in Heimatkalendern, Jahrbüchern und in verschiedenen Anthologien.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.