Blutzoll: Skandinavien-Krimi. Elsebeth Egholm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elsebeth Egholm
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Dicte Svendsen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726569643
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ihren Nägeln. Der Mageninhalt konnte viel verraten, ebenso wie die Konzentration an Rauschgift und Alkohol oder Medikamenten im Blut. Es existierte jedoch nichts Offensichtliches, das Anlass zu Vermutungen gab. Und solange die Polizei nicht mit neuen Informationen herausrückte, hatten die Journalisten nichts, dem sie nachgehen konnten. Vielleicht sollte sie sich um eine Audienz bei Wagner bemühen. In der Regel sprang bei diesen Treffen auch etwas für ihn heraus, doch im Moment hatte sie nichts zum Handeln.

      »Und? Was willst du machen?«, fragte Bo, der sie gut genug kannte. »Gibt es nicht irgendeine Perspektive, die du als Ausgangspunkt für einen Artikel nehmen kannst?«

      Er wusste genauso gut wie sie, dass die Avisen und nicht zuletzt Kaiser unersättlich waren und erwarteten, dass sie die Story auswrang wie einen Putzlappen. Und natürlich sah sie die offensichtliche Thematik, aber sie hatte keine Lust darauf. Sie warf einen bösen Blick auf ihr Roggenbrot, als wäre alles seine Schuld.

      »Die Einwanderer«, murmelte sie. »Die gesamten Medien werden sich auf sie stürzen. Inklusive uns. Ich garantiere dir, dass Holger bereits dabei ist, diese Vergewaltigungssache auszugraben, bei der ein dreizehnjähriges dänisches Mädchen von einer ganzen Gruppe geschändet worden ist.«

      Bo schlürfte seinen Kaffee.

      »Was ist mit dem Kaiserschnitt? Sie haben doch gesagt, dass den ein Profi durchgeführt haben muss.«

      Sie zuckte mit den Schultern. Wie schwer mochte es sein, einen Unterleib aufzuschneiden? Sie hatte Geschichten von Frauen gehört, die an sich selbst einen Kaiserschnitt vorgenommen hatten. Solche Bagatellen würden die Presse nicht daran hindern, sich wie üblich über den mangelnden Respekt der muslimischen Jungen gegenüber den dänischen Mädchen auszulassen. Die Logik dabei mochte sein, dass der Weg nicht weit war von einer Vergewaltigung bis zum Aufschneiden einer schwangeren Frau, die man anschließend im Hafen entsorgte. Und war nicht etwas Wahres dran, so ungern sie sich auch mit diesem Aspekt des Falls befasste?

      »Wie professionell ist es, eine Frau verbluten zu lassen und hinter einen Abfallcontainer zu werfen?«, sagte sie. »Die Geschichte wird mit der ganzen Einwandererproblematik vermischt und so lange durchgerührt werden, bis keiner mehr weiß, wo hinten und wo vorne ist.«

      Bo schenkte ihnen beiden Kaffee nach.

      »Kannst du dich noch an die Mutter erinnern, die uns den Stinkefinger gezeigt hat?«, fragte er mit sehnsüchtiger Stimme, bestimmt weil er immer in Bildern dachte und gerade diese Szene mehr gesagt hatte als tausend Worte.

      Sie erinnerte sich nur allzu gut. Nicht zuletzt an ihre eigene Reaktion. Der Sohn jener Frau war gerade verurteilt worden, bei der Vergewaltigung des dänischen Mädchens mitgemacht zu haben, und die Kopftuch tragende Mutter hatte der gesamten Presse trotzig den Stinkefinger gezeigt, als sie aus dem Gerichtsgebäude kam. Das Foto war auf allen Titelseiten gelandet und fungierte seitdem als Reklame für die Liberalen. Man war entrüstet gewesen, sowohl über das Verhalten der Mutter als auch über die Verwendung des Fotos von Seiten der Presse und der Politiker.

      Sie selbst hatte zu ihrer eigenen Überraschung äußerst unprofessionell reagiert. Auch Bo erinnerte sich daran und äffte sie auf lustige Weise nach.

      »Warum zum Teufel geht sie nicht dahin zurück, wo sie herkommt?«, mokierte er sich mit hoher Dicte-Stimme.

      Dicte rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Es stimmte. Das hatte sie gesagt, als Bo zusammen mit den anderen Fotografen das berüchtigte Bild geschossen hatte. Sie wusste nicht, woher die Worte gekommen waren. Im Normalfall versuchte sie wirklich, die Einwandererthematik differenzierter zu sehen, doch irgendetwas an der grotesken Situation hatte einen Schalter bei ihr umgelegt. Gefühle waren an die Oberfläche gekommen und hatten urplötzlich herausgewollt. Gefühle, die sie sich sonst nicht zugestand, auch jetzt nicht. Aber sie waren da gewesen. Der Wunsch, der Frau das Kopftuch herunterzureißen, war ebenso da gewesen wie der Wunsch, sie zu schütteln und zu fragen, was für ein Frauenbild sie ihrem Jungen vermittelt hatte.

      Dicte fröstelte. Sie mochte sich nicht daran erinnern. Einst hatte sie sich einmal eines gewissen Verständnisses gegenüber fremden Kulturen rühmen können. Vielleicht war das nur ein Schritt auf dem Weg zu der Erkenntnis, dass die moslemische Kultur in Dänemark Seiten hatte, die sie ganz einfach nicht verstand und auch nicht verstehen wollte.

      Sie erinnerte sich an die Antwort, die Bo ihr gegeben hatte, als er mit der um den Hals hängenden Kamera neben ihr gestanden hatte.

      »Vielleicht weil sie von hier kommt«, hatte er lakonisch gesagt. »Aus Dänemark.«

      Dicte schob den Rest des trockenen Roggenbrots an den Rand des Tellers und holte sich stattdessen einen Naturjoghurt aus dem Kühlschrank. Das Müsli war in der untersten Küchenschublade.

      »Ich habe keine Lust, über die Einwanderer zu schreiben.«

      »Warum nicht?«, fragte Bo unschuldig.

      Sie drehte sich mit dem Joghurtbecher in der Hand zu ihm um.

      »Zum Ersten, weil ich ein Feigling bin«, räumte sie ein. »Das Thema ist einfach zu brisant und zu kompliziert. Und zum Zweiten, weil ich in meinem tiefsten Inneren glaube, dass die Antwort woanders liegt.«

      »Und zum Dritten«, fuhr Bo fort und begann die Tassen abzuräumen, »weil deine Tochter einen pakistanischen Freund hat und du nicht länger weißt, was in der ganzen Problematik richtig und was falsch ist.«

      Sie sah ihn verblüfft an. Rose und Aziz hatte sie fast ganz vergessen, aber Bo hatte natürlich Recht. Auch das Wissen um diese Beziehung spielte eine Rolle bei ihrem Unmut. Es nützte nichts, es zu leugnen.

      »Ich hätte es selbst nicht besser ausdrücken können«, räumte sie ein.

      Sie gab etwas Joghurt in eine Schale und stellte den Becher auf den Tisch. Bo nahm ihn und stopfte ihn in das im Kühlschrank übliche Durcheinander aus Essensresten, halb leeren Weinflaschen und Milchkartons.

      »Vielleicht solltest du gerade deshalb darüber schreiben«, sagte er ernst. »Wer sonst könnte das so differenziert und einfühlsam?«

      »Differenzierungen sind nicht gerade das, was Kaiser will.«

      Es war so schwer. Sie wollte unbedingt das Richtige tun und das Richtige schreiben. Hin und wieder musste man sich einfach seinen Zweifeln stellen und die altbekannte Tatsache am eigenen Leib erfahren, nach der es leicht war, etwas für einen anderen zu behaupten. Viel schwerer war es dagegen, wenn man selbst mit dem Problem konfrontiert wurde.

      »Anne spielt mit dem Gedanken, ihre Eltern aufzusuchen«, sagte sie plötzlich in dem Versuch, ihn abzulenken. »In Korea.«

      Bo pfiff leise. Ihr wurde schlagartig bewusst, dass sie unbeabsichtigt von einem unerwünschten Thema zu einem anderen gekommen war, als er sie eingehend ansah und im Handumdrehen auch diese Geschichte auf sie bezog.

      »Und das hat bei dir etwas in Gang gesetzt«, vermutete er.

      »Wenn es Anne gelingt, ihre Familie zu finden, gelingt es dir vielleicht auch? Ist das so?«

      Sie schüttelte den Kopf.

      »Absolut nicht.«

      »Aber der Gedanke hat dich gestreift«, insistierte er.

      »Der Gedanke streift mich täglich. Ich habe irgendwo einen Sohn, natürlich denke ich an ihn.«

      »Und warum unternimmst du dann nichts?«

      Sie fühlte, wie das Unbehagen sich anschlich, als ihr bewusst wurde, dass die Antwort die gleiche war wie eben.

      »Weil ich ein Feigling bin.« Sie brauchte Luft, und sie musste alleine sein – ohne jemanden, der Fragen nach ihrem Mut und ihren Motiven aufwarf.

      Aus diesem Grund hatte sie auch nicht die geringste Lust, Bo in die Redaktion in der Frederiksgade zu begleiten. Stattdessen fuhr sie zum Hafen hinunter, wo die Polizei inzwischen die Absperrung aufgehoben hatte.

      Sie parkte, stieg aus und ging zum Showboat hinüber, das wie ein großer,