Blutzoll: Skandinavien-Krimi. Elsebeth Egholm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elsebeth Egholm
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Dicte Svendsen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726569643
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Es kam vor, dass junge schwangere Frauen auf der Entbindungsstation um Hilfe baten, um aus ihren Zwangsehen herauszukommen. Es kam auch vor, dass hochschwangere Frauen mit blauen Flecken am ganzen Körper erschienen, doch gerechterweise musste man sagen, dass häusliche Gewalt nicht auf die Einwandererfrauen beschränkt war.

      »Was glaubst du?«, fragte Susanne resigniert und stand auf.

      »Ich muss. Ich habe eine Zwillingsgeburt.«

      Als sie noch eine Weile zusammengesessen hatten, schlich Anne sich den Gang hinunter in das Zimmer, in dem Fatima mit ihrer kleinen Tochter lag. Sie kannte die türkische Frau von den Schwangerschaftsuntersuchungen. Jetzt lag sie müde und mit fahler Haut in ihrem Bett. Das Kopftuch verdeckte komplett, was verdeckt werden musste, und die Hände lagen auf der Bettdecke. Große, schöne Augen begegneten Annes, aber sie lächelten nicht einmal ansatzweise.

      »Herzlichen Glückwunsch, Fatima. Darf ich sie einmal sehen?«

      Fatima zeigte gleichgültig auf die Babytragetasche, die dicht neben dem Bett stand. Anne beugte sich hinunter. Das Kind war wirklich schön. Langes schwarzes Haar umrahmte ein wohlgeformtes Gesicht, die Haut des Mädchens schimmerte hell und rosig.

      »Sie ist wirklich schön. Wie soll sie heißen?«

      Fatima lag stumm da und starrte ins Leere. Anne beugte sich über die Babytragetasche und nahm das Kind auf den Arm. Dann setzte sie sich auf das Bett, und Fatimas Blick richtete sich auf das kleine Mädchen.

      »Aisha«, antwortete Fatima leise. Und während sie das sagte, fuchtelte das kleine Wesen mit den Armen, und Fatima streckte die ihren zärtlich nach dem Kind aus.

      »Leben«, sagte Anne und überließ das Baby seiner Mutter. Sie war bei weitem keine Islam-Expertin, aber immerhin wusste sie doch, dass Aisha die bekannteste Frau des Propheten Mohammed war und dass der Name Leben bedeutete. »Das ist ein sehr schöner Name.«

      Sie stand auf. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und streichelte das seidenweiche Haar des Babys.

      »Ich weiß, dass Sie alles tun werden, damit Aisha ein gutes und glückliches Leben hat, Fatima.«

      Die junge Frau im Bett lächelte nur halbherzig, und während Anne das Zimmer verließ und den Gang hinunterging, fragte sie sich, wie Aishas Leben einmal aussehen würde. Würde sie selbst ihren Mann wählen dürfen, oder würde das Oberhaupt der Familie seinen Einfluss geltend machen? Würde es in zwanzig Jahren in Dänemark noch immer Zwangsehen geben? Oder würden die Sitten und Gebräuche sich der dänischen Gesellschaft angepasst haben? Niemand konnte das Vorhersagen, aber sie hoffte, dass Aisha ihren Platz fand.

      Sie verrichtete ihre Arbeit in der Regel mit voller Aufmerksamkeit. Doch in den folgenden Stunden kreisten ihre Gedanken um das kleine türkische Mädchen, während sie zwei Geburten vorbereitete und eine dritte einleitete. Sie wusste genau, warum. Es war der Gedanke an ihre eigene Geburt in Korea, der in ihrem Kopf herumspukte. War auch sie als Neugeborenes eine Enttäuschung für ihre Eltern gewesen? Hatten sie sich so sehr einen Sohn gewünscht, dass sie sich entschlossen hatten, ihre neugeborene Tochter zur Adoption freizugeben, weil sie nur ein weiterer Mund war, der gestopft werden musste, ein weiterer Kostenfaktor?

      In der letzten Zeit war es ihr immer wichtiger geworden, darauf eine Antwort zu bekommen. Seit ihre Mutter ins Krankenhaus gekommen war und immer weiter fort in ihre eigene dunkle Welt glitt, hatte ein Wunsch Gestalt angenommen, von dem sie selbst wusste, dass er absurd war. Vielleicht hatte sie irgendwo eine Familie. Vielleicht konnte sie irgendwann einmal durch den Kontakt zu ihren Geschwistern, die sie nie gehabt hatte, und den Eltern, die sie weggegeben hatten, der Einsamkeit entkommen. Vielleicht war sie doch zu exotisch, um ohne die Liebe und Unterstützung ihrer Mutter in Dänemark zu leben.

      Anne stieß die Tür zum Kreißsaal auf.

      Man musste vorsichtig sein mit zu großen Wünschen. Diese Erfahrung hatte sie gemacht. Ihre Erfüllung konnte leicht den Menschen Schaden zufügen, die man liebte.

      Sie schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben, und fasste den Entschluss, ihre Mutter behutsam zu fragen, wenn es ihr nach der Hirnblutung noch gelingen sollte, zu ihrem Verstand durchzudringen.

      Dann wurde die Luft vom Schrei der gebärenden Frau zerrissen, und die Gegenwart schlug wieder zu.

      7

      »Das sieht gut aus«, lobte Larry Olsson enthusiastisch und klopfte mit dem Fingerknöchel auf die Titelseite der Zeitung.

      Sie standen über die aktuelle Ausgabe gebeugt, die zwischen Plastikbechern mit Kaffeeresten und den auf dem Tisch verteilten alten Zeitungen lag.

      Dicte sah Bo an. Beide wussten, was jetzt kommen würde.

      »Vielleicht hätte es der Story gutgetan, wenn das Bild hochformatig gewesen wäre«, stellte Larry Olsson fest und starrte mit schräg gelegtem Kopf Bos Titelfoto an.

      Dicte hörte Bo seufzen.

      »Es ist nicht so einfach, eine lange Kette von Polizisten mit Hunden hochformatig zu fotografieren«, wandte er ein.

      Larry Olsson war Amerikaner und daher ein Verfechter des Prinzips der unbegrenzten Möglichkeiten.

      »Das ist machbar«, meinte er. »Man darf sich nicht davon abschrecken lassen, dass etwas nicht einfach ist. Sie hätten eine einzelne Situation näher heranholen können, statt alles aufzunehmen.«

      »Da ist etwas dran«, redete Davidsen ihm nach dem Mund, der sonst immer der Erste war, der Olsson kritisierte, wenn dieser nicht in der Nähe war.

      Bo gab es auf. Larry Olsson griff nach der Zeitung und hielt sie hoch.

      »Es hätte auch gut ausgesehen, wenn am Rand der Seite ein Kästchen mit Fakten gewesen wäre«, sagte er an Dicte gewandt. »Denken Sie nächstes Mal daran.«

      »Das wäre ein sehr kleines Kästchen geworden«, sagte Dicte mit ihrer süßesten Stimme und wünschte den Amerikaner in den Irak – und zwar ohne kugelsichere Weste. »In diesem Fall gibt es bislang noch keine Fakten.«

      Larry Olsson ließ den Arm mit der Zeitung sinken und sah sie über den Rand der frisch geputzten Brille hinweg an.

      »Man findet immer etwas.«

      Bo äffte ihn nach, als sie zehn Minuten später auf dem Weg zu der Pressekonferenz im Polizeipräsidium waren.

      »Man findet immer etwas, das man einrahmen kann«, sagte er mit einer Fistelstimme und sah Dicte fest über eine imaginäre Brille hinweg an. »Man kann zum Beispiel alle Punkte einrahmen und rechts in einem hellroten Kästchen platzieren.«

      »Man könnte auch die ganze Story einrahmen und einen Kübel rote Farbe darübergießen«, schlug Dicte kichernd vor. »Dann hat man das Problem gelöst.«

      »Und man kann das entscheidende Bild zerschneiden und in kleinen Dreiecken über die ganze Seite verteilen. Das fängt den Blick des Lesers«, fügte Bo hinzu. »Und man kann demjenigen einen Preis verleihen, der es schafft, das Puzzle zusammenzusetzen.«

      Das Lachen befreite ihre Frustration, und für einen kurzen Moment vergaß sie den Irak und Roses Freund und die Frauenleiche im Hafen von Århus. Lachend betrachtete sie Bos Profil, das ein verblüffend schönes Gebiss und ein Kinn zeigte, das trotz seines jungenhaften Wesens entschlossen Vorstand. Wie üblich flammte irgendwo in ihrem Bauch die Verliebtheit auf. Hier konnten knuffige HIV-Ärzte nicht mithalten.

      »Sei bloß still«, sagte sie, als sie wieder Luft bekamen. »Müssen wir das wirklich ernst nehmen?«

      Bo sagte nichts. Sie wussten schließlich beide, dass sie das mussten, weil der Befehl von oben kam. Die Zeitung sollte designmäßig aufgepeppt werden. Die Theorie war die, dass die Käufer, die die Zeitung am Kiosk liegen sahen, sich für diese statt für ein Konkurrenzblatt entschieden, weil das Design ihr Interesse weckte. Und sie brauchten dringend mehr Käufer. Die Auflage bewegte sich in einem Tempo in den Keller, das von einem Selbstmordattentäter vorgegeben zu werden schien. Nicht dass das etwas Neues war.

      »Er