»Wo ist Nazleen?«
Er fragte, während er kaute. Er konnte unmöglich das ganze Stück aufessen, doch um ihr eine Freude zu machen, musste er so tun als ob, den Kuchen auf dem Teller ein wenig hin und her schieben und in kleine Stücke zerteilen.
»Auf ihrem Zimmer«, seufzte ihre Mutter. »Sie macht Hausaufgaben.«
»Hat sie sich noch nicht umentschieden?«
Seine Mutter schüttelte energisch den Kopf.
»Du kennst sie doch. Sie ist stur.«
Sie sah ihn bittend an.
»Auf dich würde sie hören. Kannst du nicht mit ihr reden?«
Sie sprach es nicht direkt aus. Das konnte sie sich nicht gestatten. Wie konnte eine gute moslemische Mutter es ihrer Tochter verbieten, das Kopftuch zu tragen? Das war undenkbar.
Aziz trank einen Schluck Saft und wägte das Für und Wider ab. Was tat man, wenn die eigene Schwester die Regeln des Korans befolgen wollte, als wäre sie in einem türkischen Bergdorf aufgewachsen? Obwohl ihre eigene Mutter längst kein Kopftuch mehr trug.
»Es herrscht ein solches Chaos zur Zeit«, sagte seine Mutter und runzelte die Stirn, bevor sie noch ein Stück Kuchen aß. »Es ist nicht gut, zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.«
»Ich werde mit ihr reden«, sagte er. »Später«, fügte er hinzu und stand auf.
»Ich muss noch lernen, Mutter.«
Er beugte sich über sie und küsste sie auf die Stirn, atmete den Duft der Küche und den schwachen Geruch ihres Schweißes ein. Sie war seine Mutter, und er liebte sie über alles. Und das schmerzte ihn, weil er wusste, dass er ihr bald wehtun musste.
Daran dachte er, als er auf sein Zimmer ging und sich aufs Bett legte. Er dachte an Rose und daran, was sie aneinander hatten; an den Blick ihrer Augen und den weichen Mund und die Haut, die wie Marmor schimmerte. Aber vor allem dachte er an Samstagnacht und an das, was er gesehen hatte: das grüne Auto, das um den Container gekreist war, während er und Rose in der Schlange gestanden und damit gerechnet hatten, mit ihren Freikarten hereingelassen zu werden. Es war ein mitgenommener alter Simca mit einem braunen vorderen Kotflügel, der nicht lackiert worden war. Er hatte das unklare Gefühl gehabt, das Auto irgendwoher zu kennen. Und schließlich war es ihm wieder eingefallen, als sie wenige Stunden später zwischen den gaffenden Menschen um die Leiche herumgestanden hatten. Er erinnerte sich an den gewaltigen Stoß in die Magengrube, der sich schnell zu einer Übelkeit ausgewachsen hatte, als ihm klar geworden war, wem das Auto gehörte.
11
»Was haben wir für morgen?«
Der Lokalredakteur Davidsen versuchte, seiner Stimme Autorität zu verleihen, und klang doch nur wie eine schlechte Kopie Otto Kaisers, der in Kopenhagen saß und wie ein General seine Truppen aus der Ferne lenkte.
Er bekam zunächst auch keine Antwort, obwohl alle pflichtschuldigst zu der Redaktionsbesprechung gekommen waren. Die hohen Temperaturen trugen nicht gerade zur Steigerung der Arbeitsmoral bei. Selbst die Sportreporterin Cecilie, die gerade aus dem Urlaub zurückgekommen war, sah aus, als wäre sie noch immer an einem Strand auf Mallorca.
Dicte las verstohlen in der aktuellen Ausgabe, in der Holger Søborg sich lang und breit über das Einwanderermilieu im Westen von Århus ausgelassen hatte. »Bandengewalt wütet in Gjellerup« tönte ein Artikel, während ein anderer einer älteren Dame gewidmet war, der man auf offener Straße die Tasche gestohlen hatte: »Ich habe Angst, hier wohnen zu bleiben«, hieß es darin, und Dicte spürte, wie es in ihrem Hals zu pochen begann.
Sie blätterte schnell weiter und fand die Fortsetzung ihrer eigenen Titelgeschichte über die Pressekonferenz im Polizeipräsidium. In einem hellrot eingerahmten Kästchen waren einige der Fakten umrissen, die sie auf ihrem Block notiert hatte.
»Das sieht gut aus«, sagte Larry Olsson gedehnt, der sich auf dem Stuhl neben ihr breitgemacht hatte. »Appetitlich für den Leser, und das ist schließlich das Wichtigste«, schlussfolgerte er.
Dicte klappte die Zeitung zu. Sie sah zu Bo hinüber, dessen Blick zu fragen schien, was ein amerikanischer Designer überhaupt in ihrer Redaktion verloren hatte. Wie appetitlich war eine tote Frau, deren Unterleib aufgeschlitzt worden war und deren Kind möglicherweise in irgendeinem Abfallcontainer verrottete?
Sie lächelte den Amerikaner an.
»Es freut mich, dass es dir gefällt, Larry. Jetzt wollen wir nur hoffen, dass sie das Kind finden.«
»Welches Kind?«, fragte Olsson zerstreut. Er nahm die Zeitung und blätterte zurück zu Holgers Artikel. Diesen zierten gleich drei hellrote Kästchen, und das Bild der älteren Dame war von unten her aufgenommen, sodass ihre Nase einer überdimensionalen Kartoffel glich. Das Foto war von einem schwarzen Trauerkranz umrahmt, wie es in den Achtzigern einmal modern gewesen war.
»Das gefällt mir«, sagte Olsson und sah über die randlose Brille begeistert zu Holger hin. Holger wuchs noch ein paar Zentimeter.
Davidsen, dem bewusst wurde, dass er die Aufmerksamkeit seines Publikums verloren hatte, erhob sich und wanderte im Redaktionssaal auf und ab.
»Cecilie«, bellte er mit verschränkten Armen. »Was hast du für morgen?«
»Ask not what your country can do for you«, predigte Bo im Stil von Kennedy, »ask what you can do for your country.«
Larry Olsson sah bei den aus dem Zusammenhang gerissenen amerikanischen Worten verwirrt auf. Cecilie streckte sich faul und lehnte sich leicht zu Holger hinüber, der, wie alle wussten, ihr Wochenendliebhaber war.
»Nichts«, gähnte sie. »Hast du einen Vorschlag?«
Die Journalisten machten in der Regel selbst die Vorschläge. Dementsprechend sah Davidsen völlig überrumpelt aus.
»Ich könnte Kaffee kochen und ein paar Brötchen holen«, schlug Cecilie vor.
Davidsen seufzte, sodass sein Adamsapfel nach unten rutschte. Resigniert zeigte er mit der Hand Richtung Küche.
»Ja, mach das.«
Holger rettete ihn.
»Ich habe einen Anruf vom Vizepräsidenten des Polizeiverbands Århus bekommen«, informierte er. »Er sagt, dass sie vielen Straftaten nicht nachgehen können, weil fast alle Beamten ihre Überstunden abfeiern.«
Auf dramatische Weise erzählte er, wie Einbrüche in Privathäusern zu den Akten gelegt oder aussortiert wurden und Autodiebstähle nicht weiterverfolgt wurden.
»Er sagt auch, dass keine Ressourcen vorhanden sind, um in Fällen von Menschenschmuggel zu ermitteln, weil die Arbeit sehr zeitaufwendig ist. Und Straßendiebstähle wie der in Gjellerup kommen ohnehin auf die Warteliste.«
Holger blickte sich triumphierend um, er sah nicht Davidsen, sondern Dicte an, die seiner Meinung nach durch ihren Kontakt zu John Wagner die Polizei repräsentierte.
»Mit anderen Worten, der Mann schlägt Alarm, indem er sagt, dass die Bürger nicht den Polizeischutz bekommen, auf den sie ein Recht haben.«
Dicte räusperte sich. Das Klopfen ihres Pulses war stärker geworden, und sie hatte das Gefühl, einen Kloß im Hals zu haben. Wenn der Mann Holger wirklich angerufen hatte, war das eine Story, die geschrieben werden musste. Aber der Polizei, insbesondere John Wagner, würde sie nicht gefallen. Zusammen mit der Tatsache, dass Bo sich noch immer weigerte, den Film aus dem Hafen herauszurücken, könnte das zu einem schlechten Klima zwischen Presse und Polizei führen.
Sie entschloss sich, die Polizei so gut wie möglich zu meiden. Zumindest für diesen Tag. Es galt, schnell eine andere Story zu finden, mit der sie Davidsen auf Abstand halten konnte.
Ihr Blick fiel auf eine alte Ritzau-Meldung, die irgendjemand