Blutzoll: Skandinavien-Krimi. Elsebeth Egholm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elsebeth Egholm
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Dicte Svendsen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726569643
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wie sie in einer der unteren Reihen gesessen und wie ein Schulmädchen mit der Hand aufgezeigt hatte. Ihre Fragen, die immer direkt zum Kern der Sache kamen, hatten jedoch nichts von der Zurückhaltung eines braven Schulmädchens.

      »Welche Bedeutung hat die Frauenleiche für die Handhabung der Einwandererproblematik seitens der Polizei? Ist es nicht naheliegend, in diesem Fall mit Fokus auf das Einwanderermilieu zu ermitteln?«

      Die Stimme war freundlich wie immer, besaß jedoch den unterschwelligen Biss, der ihre Art zu fragen kennzeichnete.

      Er hatte ausweichend geantwortet, was hätte er sonst auch tun sollen? Seine Befürchtung war die, dass die Spirale der Gewalt in Gjellerup noch weiter nach oben schnellte, wenn die Presse die Einwandererthematik aufbauschte, und das war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. In nur achtundvierzig Stunden war es bereits viermal zu gewaltsamen Konfrontationen zwischen Jugendlichen mit einem ausländischen Hintergrund und der Polizei gekommen. Zwei Polizisten waren mit Füßen getreten worden, als sie versucht hatten, einen jungen Mann anzuhalten, um sich sein Moped näher anzusehen, und eine Gruppe Jugendlicher hatte versucht, einen Geldtransport in Hasle zu überfallen. Auch in Braband war es zu Krawallen gekommen, als eine Gruppe Jugendlicher Pflastersteine von einer Brücke, die über den Edwin Rahrsvej führte, auf zwei Streifenwagen geworfen hatte. Die Fronten hatten sich verhärtet, und die Hitze und der Leichenfund konnten sich genau als der Brennstoff erweisen, der das Ganze zur Explosion brachte.

      Er hatte etwas anderes von Dicte Svendsen erwartet; er hatte damit gerechnet, dass sie sich mehr auf die Ermordete und den Kaiserschnitt konzentrieren würde. Erst nachdem die Pressekonferenz schon einige Minuten lief, war ihm der Zusammenhang klar geworden. Sie war persönlich betroffen. Der Fund der Leiche im Hafen und die Information über den Kaiserschnitt hatte etwas aus ihrer eigenen Vergangenheit berührt. Er wusste von Ida Marie, dass sie als Teenager ein Kind zur Adoption freigegeben hatte und nie darüber hinweggekommen war. Vielleicht war das die Erklärung dafür, dass sie so lange gebraucht hatte, um die logische Frage zu stellen:

      »Was ist mit dem Kind?«, wollte Dicte schließlich wissen, und ihre Stimme hatte sich über die Unruhe im Saal erhoben. Sie klang, als gehörte sie einer anderen. »Wo ist das Kind? Lebt es?«

      Er war nicht im Stande gewesen, ihr eine Antwort zu geben.

      »Haben wir überhaupt eine Spur? Etwas, das auf das Einwanderermilieu hinweist?«

      Die Frage kam von Ivar K, während er ohne zu fragen an Hansen vorbeigriff und sich die Zuckerdose nahm.

      Wagner schob zur Antwort den Bericht der Techniker quer über den Tisch.

      Hansen und Ivar K blätterten langsam darin. Die anderen machten lange Hälse.

      »Die Decke«, meinte Wagner schließlich, »in die die Frau gewickelt war. Im Hafen war es schwer zu erkennen, aber sieh dir das mal an«, fuhr er an Hansen gewandt fort.

      Hansen war in der Vergangenheit Streifenpolizist in der City Vest gewesen, und Wagner wusste, dass er die Örtlichkeiten gut kannte. Durch großes Engagement war er zur Kriminalpolizei gekommen, wo er bei dem Fall mit dem toten Säugling auf dem Århus-Fluss positiv aufgefallen war. Wagner hatte nicht bereut, bei der Leitung durchgesetzt zu haben, dass Jan Hansen ins feste Team aufgenommen wurde.

      Hansen pfiff leise, während er sich das Foto ansah. Das war eine mögliche neue Spur. Auf der ausgebreiteten Decke sah man deutlich das Bild einer Moschee.

      »Entzückend«, sagte er leise. »Das sieht ganz nach dem Plunder aus, den sie im Bazar Vest verkaufen.«

      9

      Im Traum war sie allein. Die anderen waren weit weg; waren von einer mächtigen Kraft, die sie von ihnen getrennt hatte, in alle Himmelsrichtungen gewirbelt worden. Ihre Eltern, Rose, Bo. Das Universum hatte sie wie in einer großen kosmischen Wehe in alle Richtungen gespuckt und nur sie zurückgelassen. Festgezurrt auf ein Holzfloß aus Einsamkeit segelte sie im Rhythmus der Wellen davon.

      Dicte wachte schweißgebadet auf, das Laken verheddert um ihre Beine. Die Vögel zwitscherten gutgelaunt, und die Sonne schien wie jeden Tag in diesem Sommer durch das offene Fenster. Sie hätte sich um ein Rollo kümmern müssen. Sie hätte sich um so vieles kümmern müssen, dachte sie, während sie noch kurz liegen blieb, den Alptraum abzustreifen versuchte und das Licht in sich aufnahm. Sie befreite sich aus dem Laken und drehte sich zu Bo um, der leise schnarchend und ganz ruhig dalag, als wäre alles in bester Ordnung. So hatte er jede Nacht geschlafen, seit er sich zu der Irak-Tour entschlossen hatte. Wie ein sorgloses Kleinkind.

      Sie stützte sich auf den Ellenbogen und beobachtete den Mann, den zu verstehen sie nie gelernt hatte. Er schien aus einem anderen Stoff gemacht als die meisten Menschen. Als wäre allein die Aussicht auf Unruhe und Instabilität für ihn eine beruhigende und freudige Vorstellung. Er trug etwas in sich, das hin und wieder Luft brauchte, das wusste sie. Etwas, das er nicht ignorieren konnte, das in ihm arbeitete und dem er Aufmerksamkeit schenken musste. Eine Art Drang, genauer konnte sie es nicht benennen. Nicht unähnlich ihrem eigenen Drang, sich genau in die Fälle zu vertiefen, die sie mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontierten. Doch Bos Drang war nicht morbide, wie ihr eigener das bisweilen sein konnte; er ließ ihn nicht selbstkritisch und voller Schuldgefühle zurück, sondern machte ihn konzentriert, aufmerksam und schlichtweg froh. Am treffendsten schien ihr der Vergleich mit einem zahmen Tier, dessen wirkliche Natur von Zeit zu Zeit zum Vorschein kam. Ein Hund, der eine Katze jagte. Eine Katze, die eine lebendige Maus fraß. Reiner Instinkt. In jeder Faser und jedem Muskel.

      Sie schmiegte sich an ihn, wie immer eifrig darauf bedacht, ihm das zu stehlen, was er ihr hin und wieder zu geben vergaß. Er hatte schließlich noch ein Leben neben ihrem gemeinsamen, das durfte sie nicht vergessen. Da waren die Kinder, die ihn so sehr beschäftigten, und da war die Karriere, auch wenn er das nie so ausdrücken würde. Aber seine Arbeit fesselte ihn, mehr als sie selbst ihn zu fesseln vermochte.

      »Hmm.«

      Sie sah das kleine Lächeln, als die Augen hinter den Lidern zu zucken begannen. Sie stützte sich ab und küsste sie, erst das eine und dann das andere. Lange Wimpern flatterten gegen ihre Lippen. Hände griffen nach ihren Hüften.

      »Hmm – hmmm.«

      Der Laut aus seiner Kehle klang wie das Schnurren eines Motors. Sie küsste seine Lippen und schmeckte die salzige Hitze der Nacht. Seine Hände wanderten über ihren Körper. Seine Arme umschlangen sie.

      »Ich will dich«, flüsterte sie.

      »Was du nicht sagst«, murmelte er ihr schläfrig durch das Haar ins Ohr. »Habe ich eine Wahl, wenn ich fragen darf?«

      »Auf jeden Fall. Du kannst zwischen sanft und weniger sanft wählen. Sehr viel weniger sanft«, fügte sie hinzu.

      Er lag eine Weile still da, und sie dachte schon, er sei wieder eingeschlafen. Dann griff eine Hand in ihr Haar und zog ihren Kopf nach hinten. Er entblößte die Zähne, und seine Bauchmuskeln spannten sich unter ihr an, als er sie auf sich zog. Ihr ganzer Körper öffnete sich.

      »Ich denke, wir probieren Letzteres. Der Abwechslung halber«, fügte er hinzu.

      Und dann kamen die Stöße und nahmen sie mit im Rhythmus ihres Traums, doch sie war nicht mehr allein.

      »Glaubst du, sie halten etwas zurück?«, fragte Bo mit vollem Mund, als sie später beim Frühstück in der Küche saßen und Rose längst mit dem Bus zur Schule gefahren war.

      »Sie halten immer etwas zurück. Aus Rücksicht auf die Ermittlungen«, fügte sie hinzu.

      Sie schnitt eine Scheibe mageren Käse ab und belegte damit ihr Roggenbrot. Ohne Butter. Annes Gesundheitspredigten schienen doch Wirkung zu zeigen, stellte sie fest und spülte einen Bissen mit Kaffee hinunter. Sie versuchte zu erraten, was die Polizei eventuell zurückhielt, aber es konnte genauso gut sein, dass sie überhaupt keine Spur hatten, der sie nachgehen konnten. Natürlich war da die Decke, in die die Frau gewickelt war. Sie war so blutdurchtränkt, dass man kaum etwas hatte erkennen können, doch möglicherweise waren die Techniker über die Hunde- und Menschenhaare, die Wagner erwähnt