Fußball ist nicht das Wichtigste im Leben – es ist das Einzige. Ben Redelings. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ben Redelings
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783895336607
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nur im Klaren darüber sein, dass mein Leibesumfang beständig wächst, sondern auch, dass die Nacht bereits nach drei, vier Stunden Schlaf beendet ist. Eine Vorstellung, die ich immer wieder auszublenden versuche. Vor allem an Tagen wie diesen, wo ich übermüdet aufstehe und weiß, dass ich bereits in weniger als sechs Stunden wieder ein Bier in der Hand haben werde.

      Als ich so daliege, habe ich genug Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, dass sich der „Kicker“ seit Tagen nicht mehr bei mir gemeldet hat. Anderthalb Monate ist das jetzt schon her, dass ich denen unseren kleinen Pilotfilm von Scudetto als TV-Sendung geschickt habe. Und eigentlich waren sie auch ganz begeistert. Wenigstens hatte der Online-Chef das gesagt. Doch sie müssten sich jetzt erst einmal darum kümmern, die Gesamtplanung für das Thema Video bei ihnen voranzutreiben. Eine schöne siebenstellige Summe müsse man gegenfinanzieren. Das würde sicher etwas dauern, hatte der nette Mann vom „Kicker“ gesagt.

      Kein Problem, dachte ich damals. Doch nun bin ich verunsichert. Seit ein paar Tagen meldet sich niemand mehr zurück. Und da ich mittlerweile bereits auf die dritte Mail keine Antwort erhalten habe, ist es eigentlich keine Verunsicherung mehr, sondern zunehmend fast schon Zorn. Es kann nicht wirklich so schwer sein, ein paar Worte zurückzuschreiben, oder? Also was steckt dann hinter der anhaltenden Stille aus Nürnberg? Finden sie die Idee etwa doch nicht so gut? Quatsch. Das Konzept ist klasse. Und jetzt höre ich auf der Stelle damit auf, mir einen Kopf über die Sache zu machen. Der Wecker hat eh schon geklingelt. Zeit also, Nadine durch das Hochstemmen der quietschenden Rollläden und durch offensives Zeitunglesen wachzumachen. Wie erwartet, ist sie wenig begeistert von meinem Aktionismus und zieht demonstrativ die Decke über den Kopf.

      Am Rechner checke ich die Mails und wende mich dann meinem Blog zu. Einen Beitrag pro Tag versuche ich möglichst zu veröffentlichen. Ich schaue meine Sammlung an Videos durch und bleibe erneut bei einem Werk des KFC Uerdingen hängen. Ein echter Kracher, aber irgendwie schon eigenartig, dass gerade dieser Verein in letzter Zeit wieder so gehäuft in mein Leben geplatzt ist. In den neunziger Jahren scheinen die ein ganz pfiffiges Werbeteam im Hintergrund gehabt zu haben. Während ich gerade das Video hochlade, ruft Gerry an. Von ihm aus können wir gerne bei diesem herrlichen Wetter schon vor dem Spiel auf seinem Balkon ein Bier trinken. Draußen strahlt die Sonne von einem wolkenlosen Himmel herunter. Von mir aus auch, sage ich und merke, wie ich bei dem Gedanken an ein kühles Bier die Müdigkeit aus meinen Knochen schüttele.

      Das Werbevideo des KFC hat es in sich. Manni Burgsmüller, der Mann, der nach Frank Mill in den achtziger Jahren seinen Po am schönsten in die Weichteile des Gegners schieben konnte, hat von seiner blonden Lockenpracht immer noch nichts eingebüßt. Er steht an einem sonnigen Herbsttag vor dem Grotenburg-Stadion und spricht völlig ohne Selbstzweifel folgende Sätze in sein Mikrofon: „Hallo, ich bin der Manni Burgsmüller. Ich werde Ihnen jetzt mal zeigen, warum wir beim KFC einen Sponsor brauchen.“ Von der Seite kommt ein debil dreinblickender junger Mann im Trikot des KFC ins Bild. Es ist der ehemalige Bundesligaprofi Joachim Hopp. „Das ist der Joachim“, sagt Manni Burgsmüller und klopft dem Joachim sehr gutmütig auf die Schulter. „Joachim hat keinen Sponsor.“ Hopp schaut nicht mehr debil, sondern nur noch blöd in die Kamera. Burgsmüller schnappt sich einen Ball, schießt ihn Joachim Hopp durch die Beine und sagt mit einer Leichenmiene: „Schaut euch das mal an!“ Beide wirken frustriert und völlig am Ende. Doch Burgsmüller schaltet schnell und klebt Hopp ein Schild auf sein Trikot: „Und jetzt bekommt der Joachim einen ‚reichen Sponsor’.“ Joachim Hopp strahlt mit der untergehenden Herbstsonne um die Wette.

      Intelligent sieht das immer noch nicht aus, aber Burgsmüller hat sein Experiment ja auch noch nicht zum – im wahrsten Sinne des Wortes – finalen Schuss geführt. Noch bevor Burgsmüller überhaupt ein Bein an den von der Kamera fixierten Ball bekommt, sprintet Joachim Hopp wie ein gedopter 100-Meter-Läufer dazwischen und läuft einige Schritte weiter. „Mist“, schreit Manni Burgsmüller und rauft sich die Haare. Dann schüttelt er den Kopf. Doch das ist natürlich erneut nur hervorragend gespielt. Schließlich hat Burgsmüller endlich wieder den Bildschirm und die Aufmerksamkeit der Zuschauer ganz für sich alleine: „Wenn das bei nur einem Spieler läuft, wird es auch bei allen anderen funktionieren.“ Werbung kann so einfach sein.

      Nadine ist längst im Laden. Vor einem knappen halben Jahr haben wir die irre Idee wahr gemacht und einen Fußballladen mit dem schönen Namen „Der Geist von Malente“ direkt neben dem Bochumer Schauspielhaus eröffnet. Am Anfang haben uns alle für bekloppt erklärt, aber mittlerweile sind die meisten nur noch begeistert. Vor allem Leute, die für einen Männergeburtstag verzweifelt ein Geschenk suchen, kommen in den Laden, legen einen Geldschein auf den Tisch und meinen zu Nadine: „Kannst du mir bitte dafür was Schönes zusammenstellen!“ Schenken leicht gemacht also. Für uns Männer eine echte Lebenshilfe.

      Irgendwie habe ich heute keine Lust mehr zu arbeiten. Ich rufe Gerry an und frage, ab wann ich vorbeikommen kann. Ihm ist auch langweilig. Er ist Richter, und nach zwei anstrengenden Jahren zu Beginn seiner Laufbahn hat er es jetzt wohl ziemlich gut getroffen. Häufig meldet er sich schon um 15 Uhr auf der Couch liegend und nervt ein bisschen rum. Wenn ich gerade mit meinen Gedanken mitten in einer Arbeit bin, kann es schon einmal sein, dass ich ein wenig beleidigend werde. Gerry erzählt dann seiner Mutter immer, wir würden ihn wegen seiner geringen Arbeitszeit aufziehen. Was stimmt. Allerdings nur zum Teil. Denn wir ziehen ihn nicht nur wegen seiner geringen Arbeitszeit auf, sondern vor allem wegen der Art und Weise, wie er auf die Sticheleien wegen seiner geringen Arbeitszeit reagiert.

      Dafür ist Gerry ein perfekter Gastgeber. Und so hat er neben die eisgekühlte Flasche Bier auch ein paar Schweinereien wie Chips und Schokolade auf den Tisch gepackt. Der andere Kollege, Wolle, ist auch schon da. Und weil es noch recht früh ist, frage ich Gerry, wie viel Bier er denn in den Kühlschrank gelegt habe. „Zwei für jeden“, entgegnet er, und ich schaue ihn entgeistert an. Es sind noch anderthalb Stunden bis zum Spiel. Ich sehe mich bereits in der herrlichen Mittagssonne auf Gerrys Balkon sitzen und an einem Glas Orangensaft nuckeln. Gerry faselt noch was davon, dass wir nachher im Stadion bestimmt wieder so viel pinkeln gehen müssen und dass das doch scheiße wäre, aber da ich ihn immer noch mit hochgezogenen Schultern und einem betroffenen Gesichtsausdruck anblicke, verzieht er sich schließlich doch in den Keller.

      Wolle hat währenddessen genüsslich an seiner Zigarette gezogen und dem Gespräch nur grinsend beigewohnt. Bei ihm weiß man nie, was er überhaupt mitkriegt. Wolle ist so ziemlich alles egal. Er ist wahrscheinlich nicht umsonst Gladbach-Fan geworden. Ich meine, er hängt einer Mannschaft an, die ihre größten Erfolge in den fernen siebziger Jahren gefeiert hat. Da war Wolle gerade einmal geboren. Wenn ich ihn darauf anspreche, meint er immer: „Aber auch der Hans-Jörg Criens war nicht so schlecht.“ Nein, natürlich nicht. Aber richtig gut war der auch nie. Wolle macht es einem wirklich nicht leicht. Vor allem, weil er sein eigenes Leben und die Wirren der letzen Jahre so erbarmungslos mit dieser Graupentruppe vom Niederrhein verbindet. Insbesondere die Tiefs der altersschwachen Fohlenelf lassen sich wie tiefe Furchen auch in seinem Lebenslauf nachweisen. Wolle hatte 1999 ein ganz schlimmes Jahr. Gladbach stieg zum ersten Mal aus der Bundesliga ab, und er verlor nicht nur seine Freundin, sondern rasselte auch das zweite Mal durch die Abschlussprüfung seiner Ausbildung zum Bauzeichner. Nach Jahren mit vielen Niederschlägen, aber auch solch mutmachenden Erfolgen wie dem Pokalgewinn von 1995 hat Wolle nun sein inneres Gleichgewicht wiedergefunden. Und im Moment schaut es in seinem Leben und bei den Gladbachern auch ganz erfreulich aus. Im nächsten Frühjahr soll geheiratet werden. Würde mich nicht wundern, wenn Netzers Erben dann auch in die erste Liga aufstiegen.

      Im Stadion laufen wir zuerst zum Bierstand und kaufen ausgelassen für 6,40 Euro jeder zwei eiskalte Pils im Plastikbecher. Kein guter Plan. Alle drei müssen wir tatsächlich noch einmal aufs Klo. Mit den Bieren in der rechten Hand öffnen wir schon beim Betreten der Örtlichkeiten mit der linken den Hosenschlitz. Innen sieht es aus wie immer. Der Boden ist klitschenass. Man könnte meinen, hier hätte gerade jemand frisch durchgewischt, und um mich ein wenig zu beruhigen, stelle ich mir auch genau das vor. Leider durchkreuzt der stechende Uringeruch und das laute Auflachen von Gerry meine angenehmen Gedanken: „Herrlich, hier hat einer erst einmal schön reingekotzt. Ich würde sagen: Schnitzel-Pommes zum Mittagessen.“

      Mein Gott, wie langweilig kann Fußball sein. Mitten in die größte Tristesse hinein, quatscht