Fußball ist nicht das Wichtigste im Leben – es ist das Einzige. Ben Redelings. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ben Redelings
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783895336607
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Fußballabends“, den ich vor sieben Jahren im Presseraum des VfL Bochum das erste Mal präsentiert habe. Scudetto heißt, spannende Geschichten rund um den Fußball in zweimal 45 Minuten unterhaltsam auf die Bühne zu bringen. Auch wenn es mittlerweile einige Favoriten im Programm gibt, so ist doch jede Veranstaltung anders, weil ich immer wieder neue Filmchen, lustige Bilder oder interessante Anekdoten aus der bunten Welt des rollenden Leders entdecke und für die Veranstaltung aufbereite.

      Ich durchblättere also einen dreißig Zentimeter hohen Stapel Kopien und schaue noch einmal meine Notizen durch, um am Ende schließlich doch zunächst wieder bei meinen „Klassikern“ zu landen. Einer meiner absoluten Lieblingstexte ist der „FAZ“-Fragebogen aus dem EM-Jahr 1996 mit dem damaligen Bundestrainer Berti Vogts. Auf der Bühne sage ich immer, dass der Bogen zu hundert Prozent genau so vom „Terrier“ ausgefüllt worden ist. Ich selbst glaube allerdings nur zu fünf Prozent daran. Zu hausbacken und naiv sind die Antworten des „Wadenbeißers“. Niemand würde doch tatsächlich auf die Idee kommen, auf die Frage nach seinen Lieblingsschriftstellern und -lyrikern mit „Unbekannte Autoren“ zu antworten. Oder etwa doch? Schließlich hat Vogts den Journalisten ja auch einmal den unvergesslichen Gassenhauer „Hass gehört nicht ins Stadion. Die Leute sollen ihre Emotionen zu Hause in den Wohnzimmern mit ihren Frauen ausleben“ in die Notizblöcke diktiert. Ob gefakt oder echt, im Saal gibt es spätestens kein Halten mehr, wenn der alte Meisterspieler von Borussia Mönchengladbach und vom Leben nicht immer verwöhnte Berti Vogts auf die Frage nach seiner Lieblingsfarbe klar und unmissverständlich antwortet: „Gelb-grün“.

      Gegen fünf werde ich nervös. Nur noch dreieinhalb Stunden bis zum Anpfiff. Ich mache mir eine Flasche Bier auf und durchkämme meine alten Fußballzeitschriften. Ich bin immer wieder aufs Neue entzückt, wie lang das alles schon her ist. Und wie jung die alle mal waren. Franz Beckenbauer mit vollem Haar und getönter Sonnenbrille. Ronald Koeman schlank und rank. Klaus Augenthaler ohne Falten. Unglaublich. Und gesoffen haben sie früher. Wolfram Wuttke von Lautern und unser Bochumer, Lothar Woelk, haben es sich bei einer Dopingprobe mal richtig gutgehen lassen. Sieben Liter Bier, also vierzehn Flaschen, mussten sie den beiden in die Umkleidekabine bringen. Der Aufsicht führende Arzt meinte, nachdem die Spieler endlich genug Wasser lassen konnten, völlig fassungslos: „Woelk hatte am Ende bestimmt 2,1 Promille im Blut.“ Ja, das waren noch echte Kerle!

      Das Blättern in den alten Magazinen lenkt mich jedoch nur unzureichend ab. Langsam aber sicher schleicht sich auch wieder der nervende Realismus eines VfL-Fans an mich heran. Von Minute zu Minute mache ich uns kleiner. Im Kopf spuken Sätze umher wie: Wir spielen heute nicht gegen irgendwen. Wir haben es mit dem Hamburger Sport-Verein zu tun. Mit van der Vaart & Co. Das kann eigentlich nicht gutgehen. Die waren schließlich Zweiter in der letzten Rückrunden-Tabelle, und wir sind nur der VfL Bochum. Heute könnte was Wunderbares, was nahezu Einmaliges passieren. Aber das geht ja bei uns eigentlich immer in die Hose.

      Nach einigen, zähen Minuten des Selbstmitleids erlöse ich mich und das Macbook aus seinem Ruhezustand. Ich gehe auf die Bet-and-Win-Seiten. Gucken, was man für den heutigen Abend Verrücktes wetten kann. Im ersten Moment werde ich von den unzähligen Möglichkeiten erschlagen. Fast nichts, was es nicht zu tippen gibt. Und eines ist unwahrscheinlicher als das andere. Ich entscheide mich schließlich für die blödeste Variante von allen überhaupt und prophezeie, von meinem eigenen Schwachsinn fast darniedergestreckt: Unser nicht unbedingt für seine Torgeilheit bekannter Abwehrspieler Marcel Maltritz schießt nicht irgendwann, sondern in der ersten Halbzeit, und zwar nicht irgendein, sondern das einzige Tor dieser Spielhälfte. Quote dafür aber immerhin 1:45. Ich riskiere fünf Euro und bin mir sicher, das Geld ist weg.

      Goosen ruft an. Er schlägt vor, in der Stadionkneipe noch ein Bier vor dem Spiel zu nehmen. Guter Plan. Gerry und Wolle schaffen es sowieso erst kurz vorm Anpfiff da zu sein, und die Begegnungen der zweiten Liga kann man auch auf dem Kneipenfernseher gucken. Goosen ist ebenfalls schon angespannt. Will er zwar nicht zugeben, ist aber so. Schließlich stimmt irgendwas mit seinem Magen nicht, und das ist bei ihm ein sicheres Zeichen für Nervosität. Er hofft, dass sich das noch bis zum ersten Bier legt. Als ich ihm von der Wette erzähle, lacht er herzhaft: „Nen größeren Scheiß hast du dir aber nicht aussuchen können, was?! Ausgerechnet Maltritz. Du bist wahnsinnig.“

      In der U-Bahn zum Stadion sitzen zwei Herner Vorstadtgören. Beide sind etwa zwölf Jahre alt, leicht verschwitzt und tun alles, um cool zu wirken. Das geht ziemlich in die Hose. Die Anführerin der beiden hat bereits einen kleinen Busenansatz unter ihrem Neonpulli, und auch die kindlichen Züge verschwinden langsam aus ihrem Gesicht. Die andere sitzt pausbackig in einer schwarzen, viel zu engen Pferdehose in die Ecke gedrängt und saugt jede Silbe ihrer Freundin wie das Wort zum Sonntag auf. Den einsteigenden VfL-Anhängern mit ihren blau-weiß gestreiften Schals gucken die pubertierenden Teenies abfällig hinterher. „Wie kann man nur Fan von denen sein?“, bricht es schnippisch aus dem Busenansatz heraus. „Ich bin für Schalke.“

      Für einen Moment habe ich ein Déjà-vu-Erlebnis. Ich habe das Schrottplatz-Video der Dortmunder Girlie-Proll-Band „Tic Tac Toe“ aus den Anfängen der Neunziger vor Augen. Drei dreckverschmierte Mädchen in blauen Overalls, die „Ich find dich Scheiße“ singen. Und plötzlich fällt mir wieder ein, dass es ja tatsächlich ein ähnlich klingendes Lied von „Tac Tic Tor“ gab: „Ich steh auf Schalke“. Mit dem bis heute unübertroffenen Eröffnungssatz eines Fußballsongs: „Auf die Schnelle, auf die Schnelle machen wir La-Ola-Welle. Ne Attacke hinterher, das ist für Schalker nicht zu schwer.“ Großartig gedichtet, keine Frage. Aber wenn das inhaltlich mal nicht ein bisschen zu überheblich gewesen ist!

      Die Pferdehose kichert jedenfalls verlegen in ihre ausgewaschene Sommerjacke und guckt nervös umher. Offensichtlich haben die drumherum sitzenden VfL-Fans Besseres zu tun, als den Mädchen übers Maul zu fahren. Vielleicht haben sie aber auch nur Mitleid mit diesen beiden fehlgeleiteten Kreaturen. Und so fasst sich die Pausbackige zwischen zwei Schokoriegeln und einem vor Aufregung abgesetzten Jungmädchenpups ein Herz und verkündet stolz: „Von dem Maskottchen Ährwin habe ich sogar ne Tasse zu Hause. Da trink ich jeden Morgen raus.“

      Ich muss mich arg zusammenreißen, dass ich nicht mitten in der Bahn einen Lachkrampf bekomme. Doch der mittlerweile in der Luft zirkulierende Pups treibt mich an das Ende des Wagens. Aus sicherer Entfernung beobachte ich noch, wie die beiden Vorstadtgören die Hände in die Luft recken und sich abklatschen. Drei Punkte auf feindlichem Territorium. So leicht werden wir es gleich den Hamburgern hoffentlich nicht machen.

      Goosens Magenprobleme sind nicht besser geworden. In gekrümmter Haltung nippt er von seinem Bier und schimpft auf die eigene körperliche Verfassung. Das einzige, was ihn ein bisschen abzulenken scheint, ist das penetrant dauerknutschende, ganz in Blau und Weiß gehüllte Pärchen zwei Nachbartische weiter. Auch wir schauen gebannt zu, wie der leicht pickelige Junge die brünette Schönheit mit einem einzigen Kuss zu verschlingen versucht. Ollie, der, wenn er nicht gerade als VfL-Fan unterwegs ist, im zweiten Leben für den „Kicker“ aus Italien berichtet, beendet unser schweigendes Glotzen auf eine wie immer vorbildliche Weise: „Hömma, ihr beiden. Hier ist Fußball. Händchenhalten ist zu Hause. Oder ihr zeigt uns ma richtig was. Dann aber flott, Spiel geht gleich los!“ Das Pärchen grinst nur kurz, ohne die Augen zu öffnen, um dann mit einem leichten Stellungswechsel endgültig komplett ineinander zu verschmelzen.

      Gerry ruft an. Er schreit sehr laut in sein Handy. Wir treffen uns schon früher. In fünf Minuten soll ich am Baum vorm Marathontor sein. Ich verabschiede mich, trinke mein Bier in einem Zug aus und rufe beim Rausgehen in die Runde: „Wenn wir Tabellenführer sind, treffen wir uns noch auf ein Feierbierchen im Tennisklub.“ Die Jungs strahlen mich voller Vorfreude an. Feierbierchen hören sie gerne. Hat den Klang von Erfolg und verspricht viel Spaß. Mit nach oben gestreckten Daumen schauen sie mir hinterher.

      Draußen wartet eine Überraschung. Gerry ist nicht alleine am Baum. Er lächelt, aber wohl mehr aus Verlegenheit. Will ich wenigstens hoffen. Allen Grund dazu hätte er. Denn er steht mit Nadine und drei ihrer Freundinnen im Halbkreis zusammen und hebt schuldbewusst seine Schultern. Dachte ich jedenfalls. Seine Begrüßung relativiert die Körpersprache: „Was sollte ich denn machen? Die Mädels wollten halt mitkommen. Da habe ich Karten besorgt. Stell dich ma nich so an, Redelings!“ Ich habe noch nichts gesagt, und Gerry