Fußball ist nicht das Wichtigste im Leben – es ist das Einzige. Ben Redelings. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ben Redelings
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783895336607
Скачать книгу
meinem Kopf pocht es gewaltig. Mir ist abwechselnd heiß und kalt. Die Nacht in einem Hotel vor den Toren von Köln hat mir endgültig den Rest gegeben. Nadines Cousine hat gestern geheiratet. Doch das Kölsch wollte mir nicht richtig schmecken. Nach zwei Gläsern bin ich auf Wasser umgestiegen. Literweise habe ich das Zeug runtergekippt. Ab Mitternacht konnte man jedoch zur Entsorgung der Wassermassen nicht mehr das Klo benutzen. Ein Partygast hatte sich unkontrolliert übergeben. Fünf Minuten später stand er allerdings wieder mit einem Kölsch in der einen und einem Wurstbrot in der anderen Hand auf der Tanzfläche. Der Junge hat mir ausgesprochen gut gefallen. Er hat genau den Überlebenswillen verkörpert, der auch den heimischen 1. FC Kölle auszeichnet.

      Die Woche war hart. Zusammen mit Christoph Ruf bin ich auf der kleinen Scudetto-Lesetour mit Terminen in Berlin und Köln gewesen. Stundenlange Bahnfahrten, ein bisschen Auftreten und deutlich zu viel Bier. Das Tourleben kann schon etwas von Rock ’n’ Roll haben. Wenn man es denn zulässt. Wir haben uns für eine gemäßigte Variante des Rockstar-Lebens entschieden. Aber wenn man denn schon einmal in Berlin in einem legendären Punkschuppen auftreten darf, dann muss man es auch krachen lassen. War jedenfalls unser Plan. Die Realität sah jedoch etwas anders aus.

      Kaum in Berlin angekommen, war die Stimmung bei Christoph kurzfristig auf den Nullpunkt gesackt. Ein schönes Interview mit einem gesprächigen und durchaus sympathischen Bundesligatrainer wollte dieser nach dem Durchlesen der Abschrift so nie geführt haben. Am Telefon ließ er über eine dritte Person ausrichten: „Das können Sie doch so nicht schreiben.“

      Ich kenne mich. Alleine dieser Satz hätte mich schon auf die Palme gebracht. Da transkribiert man Wort für Wort, und am Ende will es mal wieder niemand so gemeint haben. „Wie hätten Sie es denn gerne, dass Sie es gesagt haben?“, hätte ich wohl süffisant erwidert. Aber Christoph ist Profi. Der denkt in solch einem Moment schon an den nächsten Termin und versucht, die Situation zu retten. Mich halten diese elenden Autorisierungen konsequent davon ab, Interviews ohne Kamera zu führen. Wenn ich ehrlich bin, kotzt mich diese Art der Glattbügelung von möglicherweise anstößigen Formulierungen regelrecht an. Weichspülprogramme für ein blütenrein weißes Fußballdeutschland.

      Am Auftrittsort in Kreuzberg werden wir sehr freundlich begrüßt. Von zwei Frauen in ausgewaschenen Shirts und Wollpullis. Alter? Schwer zu sagen. Zwischen dreißig und fünfzig. Die eine schmal und hager, die andere riesig und kräftig. Beide Klischee-Lesben aus dem Brockhaus. Kollege Wolle würde wohl sogar den Begriff „Kampflesbe“ gebrauchen. Aber sehr nett. Vor allem die Begrüßungssätze. „Ihr müsst diese komischen Fußballtypen sein, wa?! Na, da kommt ma rinn. Wir haben leider von Fußball überhaupt keene Ahnung. Aber das macht nichts, wa?!“

      Och, denke ich, ein bisschen Ahnung hätte vielleicht nicht geschadet. Denn bereits auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass wir nur knapp am Pokal für die am besten angekündigten Gäste aller Zeiten vorbeigeschlittert sind. Die nächste halbe Stunde versuche ich in den prächtig mit allerlei bunten Plakaten behangenen und mit Flyern nur so zugestellten Räumlichkeiten verzweifelt, ein Fitzel Papier mit dem Aufdruck Scudetto zu entdecken. Doch es bleibt ein aussichtsloses Unterfangen. Selbst in den Kabinen auf den Frauen-Toiletten kann ich die Plakatschichten einzeln auseinandernehmen – da ist nichts. Ich frage mich, wie, wo und vor allem mit wem das heute Abend enden soll?

      Lange kann ich diesem Gedanken allerdings nicht hinterherhängen. Christoph stupst mich an. Jemand ist gekommen, der die Technik mit uns durchgehen will. Den Namen habe ich leider bei der Vorstellung nicht verstanden. Was immer schon peinlich genug ist, in diesem Fall aber zu einem ernsten Problem wird. Ich sehe in Christophs Augen die gleiche Ratlosigkeit, die mich gepackt hat. Männlein oder Weiblein? Welches Geschlecht bastelt da gerade an unseren Mikrofonen rum? Im nächsten Moment ist mir diese Frage aber auch gleich wieder egal. Das nette Geschöpf hat bei einer zum Mikrotest vorgelesenen Passage aus meinem Buch gelacht. So soll es sein. Wer will da schon nach dem Geschlecht fragen?

      Die Feilscherei um die Gage nach dem Auftritt ist entwürdigend. Ich lasse Christoph alleine und gehe stattdessen noch einmal einzeln die Flyerstapel in einem Wandständer durch. Immer noch nichts. Als ich schließlich hinter der Theke den Papierkorb durchwühle, bekommt der Begriff „Kampflesbe“ für einen Augenblick einen ernsten Hintergrund. Zusammen mit den handverlesenen 18 Gästen, die noch immer im mittlerweile hell erleuchteten Saal auf den Stühlen stehend um eine Zugabe bitten, verlassen wir eilig die Räumlichkeiten.

      Draußen treffen wir auf unseren Techniker. Sandra ist eine Frau und hat ihre Freundin im Arm: „War nischt los, wa?! Hab denen gleich jesacht, dat et ohne Werbung nischt jeht. Ick hab mir eens von die schöne Plakate mit nach Hause jenommen.“ Ja, da hängt es sicher gut!

      Als ich am nächsten Morgen gegen sechs Uhr aufwache, greife ich erst einmal in meine am Boden liegende Hose und nehme mit einem Schluck Cola light zwei Kopfschmerztabletten ein. Dann drücke ich das Kissen so elegant hinter meinen Kopf, dass ich das riesige Bücherregal komplett mit einem Blick erfassen kann. Wir sind bei einem befreundeten Journalisten-Kollegen von Christoph untergekommen. Und wie ich gestern Nachmittag bei unserer Ankunft schon erfreut feststellen durfte, hat der gute Mann das eine oder andere Fußballbuch in seinem Sortiment, das mir bisher durch die Lappen gegangen ist.

      Als die Tabletten einen Großteil ihrer befreienden Wirkung entfaltet haben, wage ich mich näher an die zwei Regalbretter, die mein Interesse geweckt haben. Voller Demut schieße ich mit dem Handy erst einmal ein paar Fotos aus der Nahdistanz. Zu Hause kann ich die dann in Ruhe auswerten. Doch ein Buch muss ich sofort in die Hand nehmen: „Daum: War es ein Komplott? Neue Erkenntnisse, Daten, Fakten, Hintergründe“. Und eine Frage, die mich fast umbringt: Wie konnte mir dieses wunderbare Werk aus dem Jahr 2000 bisher nur entgangen sein?

      Ich lasse mich auf die Luftmatratze fallen und drehe das Buch immer wieder voller Andacht in meinen Händen herum. Ich spüre, hier passiert gerade etwas Großes. Bereits das Cover toppt alles bisher Gesehene. Christoph Daum in seinem berühmten blauen Anzug vor einem blutroten Hintergrund. „Hervorragend recherchiertes Material“ und „brisante Erkenntnisse“ werden auf der Rückseite reißerisch versprochen. Mich hat die Neugierde gepackt. Schnell blättere ich nach ganz hinten. 128 Seiten. Das ist zu schaffen, bis die anderen wach sind. Und so lese ich Seite für Seite. Vor Begeisterung schüttele ich mehrmals krampfartig mit dem Kopf hin und her und leere nebenbei in großen Zügen die Colaflasche, bis meine Blase signalisiert: bis hierhin und nicht weiter. Doch dann kommt er. Der Höhepunkt. Seite 120. Der Autor holt zum finalen Schlag aus.

      Christoph Daum ist das Opfer einer „gewissen halbseidenen und teilkriminellen wirtschaftlichen Interessengruppe“, kurz gesagt, der Mafia, geworden. Sie hat den damaligen Trainer von Bayer Leverkusen und Angelica Camm, seine heutige Dauer-Lebensgefährtin, zusammengebracht. Und die Mafia wollte ihn mit dieser außerehelichen Affäre erpressen. Sie wollte ihn ausnehmen wie eine Weihnachtsgans. Am Ende sollte er am Boden liegend winseln und um Gnade bitten. Doch der Plan scheiterte. Denn mit einem hatten diese üblen Damen und Herren von der halbseidenen Interessengruppe nicht gerechnet: mit dem unwiderstehlichen und auf Frauen betörend wirkenden Charme des Christoph Daum.

      Fast schon wissenschaftlich nüchtern kommt der Autor zu dem Schluss: „Nun haben sich Christoph Daum und Angelica Camm aber anscheinend ineinander verliebt.“ Verdammt noch mal. Das ist es, durchzuckt es mich. Jetzt wird ein Schuh daraus. Und auch das Buch führt konsequent auf den folgenden Seiten aus, dass die Mafia nun natürlich Daum Kokain unterschieben musste, um ihn doch noch zu packen. Quasi in die Nase gedrückt haben sie ihm das Zeug. Und als er immer noch nicht zahlen wollte, haben sie eben dem Uli Hoeneß Bescheid gesagt. Und die Haaranalyse gefälscht. So konnten sie es dem Daum mal so richtig geben, diesem unwiderstehlichen Latino-Lover.

      Als ich am Abend die Geschichte in Köln erzähle, liegen wir alle kollektiv vor Lachen auf dem Boden. Nur ein Typ in der ersten Reihe schaut mich während meiner Ausführungen seltsam regungslos an. Nach der Veranstaltung kommt er direkt auf mich zu. „Das war ein super Abend. Aber sag mal: die Geschichte mit dem Christoph Daum. Das kann doch sein. Meinst du nicht auch? Der Mafia traue ich jedenfalls alles zu!“

      Innerlich fassungslos, breche ich auch jetzt nicht mit der ersten aller Bühnenregeln. Eine Regel, die die alternden Rampensäue von Generation