Ein unerwarteter Schmerz breitete sich zwischen seinen Rippen aus. „Nyet.“
Sie wandte sich ihm wieder zu. „Eine Ehefrau?“
„Nyet.“
„Eine Freundin?“
Eine interessante Wendung. Er hatte keine Ahnung, wohin sie damit wollte. Eine Frau wie Evette würde sich nicht für einen Mann wie ihn interessieren. Jedenfalls nicht auf die Weise, wie es ihre Befragung anzudeuten schien. Und doch war seine physische Reaktion sofort und eifrig bei der Idee dabei.
Sein Schweigen und seine Mimik mussten wohl die Richtung seiner Gedanken verraten haben, denn sie richtete sich auf und plapperte drauflos. „Ich versuche herauszufinden, ob Sie jemand Besonderes in ihrem Leben haben. Jemand, für den Sie sich ein Bein ausreißen würden.“
Ah, also war es Emerson, um den sie sich Sorgen machte. Das ergab Sinn. Jeder, der sie mit ihrem Sohn sah, wusste, dass sie Berge versetzen würde, um Emersons Leben dadurch besser zu machen. Auch wenn es bedeutete, sich auf einen Tanz mit dem Teufel einzulassen.
Er nickte und dachte dabei an die Frau, die er als Schwester betrachtete, Darya, und an Anton, den Mann, der mehr ein Vater als sein eigener für ihn gewesen war. „Es gibt da einige.“
Sie studierte sein Gesicht, konzentrierte sich darauf, als ob sie die Ehrlichkeit seiner Antwort einschätzen wollte. Was auch immer sie gesehen hatte, musste wohl ihren Mut befeuert haben, denn sie schluckte den letzten Rest ihrer Angst hinunter und fuhr fort. „Emerson ist mein Ein und Alles. Die einzige Familie, die ich noch habe.“
„Die Familie ist in der Tat wichtig.“ Er wartete. Wenn sie etwas wollte, musste sie darum bitten. Er hatte bereits genug auf dem Gewissen, um ihn für immer in die Hölle zu verbannen. Ihren Untergang würde er jedoch nicht auf dieser Liste ergänzen.
Sie fing erneut an, an ihren Fingernägeln herumzufummeln, während es so wirkte, als wäre ihre Aufmerksamkeit auf den Tisch gerichtet; dabei schien sie ganz woanders mit ihren Gedanken zu sein. „Die letzten Jahre waren hart für ihn. Es kommt mir vor, als wäre er über Nacht von einem Kind zu einem Erwachsenen geworden, der im Körper eines Jungen gefangen ist. Seine Lehrer sagen, es liege daran, dass er sich in der Schule langweilt. Oder unterfordert fühlt.“ Sie hob den Kopf und auf ihren Lippen zeichnete sich ein stolzes Lächeln ab. „Mein Emerson ist klug.“ Das Lächeln verrutschte. „Aber er hat es nicht leicht, und die Lehrer denken alle, wenn ich es schaffe, ihn in der Montessori-Schule im Stadtrand unterzubringen, würde ihm das helfen.“
Als hätte er gespürt, dass das Gespräch sich um ihn drehte, blickte Emerson von seinen Schulbüchern auf und erwiderte Sergeis Blick.
Schmerz.
Verwirrung.
Frustration.
Leere. Die Art, die entstand, wenn der wertvolle Teil im Leben eines Jungen fehlte.
Sergei kannte diese Leere, war den gleichen Weg voller Schmerz, Frustration und Verwirrung gegangen, bis Yefim ihn gefunden und Anton vorgestellt hatte. Evette konnte den Jungen in die beste Schule des Landes bringen, doch das würde nie die Lücke füllen, mit der ihr Sohn sich herumschlug. Er brauchte einen Mentor. Einen Mann, der ihn leitete, ihm half, sein Leben zu gestalten.
Es stand Sergei allerdings nicht zu, diese Weisheit mit ihr zu teilen. Ganz besonders, da es sich um ein Bedürfnis handelte, das Evette nicht erfüllen konnte. „Dann sollten Sie dieser Schule wohl eine Chance geben.“
„Das will ich. Ich werde es tun. Tatsächlich haben sie gerade einen Platz frei. Der Schulleiter sagte sogar, Emerson hätte gute Chancen, sich für ein Stipendium zu qualifizieren, allerdings muss ich das Geld für seinen Studiengebühren vorstrecken, um seinen Platz so lange zu halten.“
„Sie brauchen also Geld, um die Aufnahme zu sichern.“ Eine Bitte, die leicht zu erfüllen war und verhindern würde, dass sie die hässliche Seite seines Lebens sah.
„Nein. Keinen Kredit. Ich möchte Hilfe bei der Arbeitssuche. Eine Referenz oder einen Hinweis, wenn sie einen haben. Und je früher, desto besser.“
Interessant.
Wie oft waren die Menschen zu ihm gekommen und hatte ihn um Hilfe gebeten, aber nicht ein einziges Mal hatte jemand das Angebot von Geld abgelehnt.
Er beugte sich vor und legte wie sie die Unterarme auf dem Tisch ab. Während seine Hände ruhig und locker blieben, waren ihre immer noch zappelig miteinander beschäftigt. „Ein Job.“
„Ja.“
„Was für ein Job?“
Sie drehte sich in ihrem Sitz neben ihm so, dass sie ihm ihren Oberkörper zuwandte. Ihr Bein, das ihm am nächsten war, hatte sie angezogen; es lag ruhig auf dem Sitz. Es wirkte, als ob sie sich für ein normales Gespräch mit einem unschuldigen Mann statt mit einem bekannten Subjekt aus der kriminellen Unterwelt wappnete. „Nun ja, Sie wissen, dass ich in einem Laden wie diesem arbeiten könnte. Zumindest hier vorne. Ich war noch nie in einer Küche tätig, also wäre das schwer zu verkaufen. Mein letzter Job war bei einer Reinigungsfirma. Wir haben in Geschäftsgebäuden gearbeitet, hauptsächlich in Büros. Das hat gut funktioniert, denn es ist Tagarbeit und ich hatte kurz nach Emersons Schulschluss frei. Ich denke jedoch, dass es schwierig sein wird, so etwas wieder zu bekommen, wenn der neue Arbeitgeber eine Referenz von meinem ehemaligen verlangt.“
„Und warum?“
„Weil sie mich wegen einem Sicherheitsverstoß gefeuert haben.“
Alles in ihm wurde still. Seine Raubtierinstinkte wurden mit der gleichen Eindringlichkeit ausgelöst, die er gespürt hätte, wenn einer seiner meistgehassten Feinde durch die Türen des Diners gekommen wäre. „Erklären Sie mir das.“
Evettes Augen verengten sich und sie neigte ihren Kopf ein klein wenig. Als sie antwortete, tat sie das mit der Vorsicht einer Frau, die sich sehr bewusst war, dass sie gerade über eine Art Auslöser gestolpert war, sich jedoch nicht ganz sicher war, was der Auslöser tatsächlich war. „Ich habe wirklich keine Ahnung. Sie haben gesagt, mein Ausweis sei am vergangenen Samstag in einem Anwaltsbüro benutzt worden, aber ich weiß, dass das nicht stimmen kann. Mein Ausweis war zu Hause. Emerson und ich waren am Samstag nur zweimal unterwegs – auf dem Bauernmarkt und in der Kirche. Ich kann es auf keinen Fall gewesen sein.“
„Und das haben Sie ihnen gesagt?“
„Natürlich. Aber es stand mein Wort gegen ein computergestütztes Trackingsystem, also wollte mein Boss mir nicht zuhören.“
Er würde darauf wetten, dass er ihren Boss dazu bringen könnte, zuzuhören.
Und ihn leiden lassen.
Für eine ganze Weile.
Allerdings würde das, auf lange Sicht gesehen, nicht gut für sie funktionieren, und in seinem Kopf nahm eine verlockende, aber gefährliche Idee Gestalt an. Vorteilhaft für sie beide, doch reine Folter für ihn.
Er lehnte sich erneut zurück und studierte ihr Gesicht.
Sie starrte zurück. Ihre Augen, mit Blau und Grün durchsetzte Goldflecken, wurden durch diesen unbezähmbaren Geist, der darin tobte, noch viel faszinierender. Einer hoch angesehenen Frau wie Evette und ihrem Sohn zu helfen, würde ihm bei den Einheimischen viel Vertrauen, Respekt und Loyalität einbringen. Und je mehr Loyalität und Respekt er erntete, desto schneller würde er seine Ziele erreichen.
Ein Gewinn für sie und ein Gewinn für ihn.
Dafür könnte er sicherlich ein wenig Folter verkraften.
Nachdem er seine Entscheidung gefällt hatte, machte er sich eine geistige Notiz, den Namen der Firma, in der sie gearbeitet hatte, herauszufinden und den angeblichen Sicherheitsverstoß zu untersuchen. Er zog eine Visitenkarte aus seiner Tasche, schrieb eine Adresse auf die Rückseite und schob