Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2). Siri Pettersen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Siri Pettersen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783038801146
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sie ihm mit dem Ellenbogen die Nase brechen.

      »Ich weiß, hier ist alles anders, aber wir müssen das Beste draus machen, stimmts?« Kuro rührte sich nicht. »Wir haben ein Dach über dem Kopf, Essen, Arbeit, für die wir Geld kriegen. Begreifst du, was das bedeutet? Wir verhungern nicht.« Sie stellte die Stiefel vor ihm auf den Boden. »Guck dir die mal an. Und die Farbe erst!« Kuro hob nicht ein Augenlid. Sie stand auf und zog die Stiefel an. »Das verzeihe ich dir nie, wenn du krank wirst. Nur damit du’s weißt, du Flattermann.«

      Die Worte wurden in ihrem Mund zu Mus. Es brachte nichts, wenn sie ihre Angst noch länger für sich behielt. Sie musste Pater Brody um Hilfe bitten. Er war nett. Und er musste doch jemanden wissen, der sich mit Raben auskannte.

      Hirka stieg die Turmtreppe hinab. Das Gemäuer war an vielen Stellen verwittert und mit Holzbalken ausgebessert worden. Das gefiel ihr. Holz auf Stein. Die Bauweise der Kirchen. Das war eins der wenigen Dinge, die sich hier echt anfühlten. Wie die Erinnerung an zu Hause.

       Das hier ist jetzt zu Hause.

      Als sie unten angekommen war, hörte sie Schritte aus der Kirche und drückte sich unwillkürlich an die Wand. Diese Angewohnheit abzulegen, würde ihr nie gelingen. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, öffnete dann die Tür und kam hinter dem Altar heraus. Pater Brody lächelte ihr zu. Wenn er lächelte, sah er immer aus, als müsse er dringend pinkeln. Er hatte rote Flecken im Gesicht, trug ein schwarzes Hemd und eine schwarze Hose. Keinen Kittel.

      »Mit Kuro stimmt was nicht«, sagte Hirka.

      »Kuro?« Er zog eine Augenbraue hoch. »Ach, der Vogel.«

      »Er ist krank und ich habe nichts, womit ich ihm helfen kann.«

      »Ich verstehe. Ich verstehe.«

      Hirka wusste, dass er überhaupt nichts verstand, aber immer sagte, dass er es tue.

      »Hast du?«, fragte sie.

      »Habe ich was?«

      »Etwas, das ihm helfen kann?« Hirka versuchte, ihre Angst nicht durchscheinen zu lassen, aber sie schien nur noch größer zu werden, wenn sie darüber sprach.

      »Nein. Nein, ich glaube nicht. Was fehlt ihm denn?«

      »Er rührt sich nicht, isst nicht. Wir müssen was tun.«

      Pater Brody nickte. Er hatte blaue Augen. Die sahen jünger aus als der Rest von ihm. »Ich kann jemanden fragen. Einen Veterinär. Das ist ein Arzt für Tiere. Wir können anrufen, nachdem … Ich wollte dich gerade holen. Es kommt gleich jemand, der mit dir sprechen will.«

      Er sagte das, als sei es die alltäglichste Sache der Welt, doch sofort überkam sie Unruhe. Warum sollte jemand mit ihr reden wollen? Sie kannte fast niemanden von denen, die hier herumliefen. Außer Jay.

       Und ihre Mutter. Dilipa, die dich am liebsten von hier weghaben will.

      Hirka nickte. Sie musste das Wichtigste zuerst anpacken. »Kannst du jetzt anrufen? Diesen Arzt für Tiere?«

      Pater Brody wurde noch etwas röter im Gesicht. Er sah aus, als dächte er über ein Nein nach, aber sie glaubte nicht, dass er das Wort überhaupt aussprechen konnte. »Selbstverständlich, selbstverständlich.«

      Er holte das Telefon heraus und wählte. Hirka biss sich auf die Unterlippe. Es musste hier jemanden geben, der helfen konnte. Doch dann fiel es ihr plötzlich wieder ein. Der Mann in der dunklen Gasse. Die Frau im Pelzmantel, die sie gesehen hatte, aber schleunigst weitergegangen war, als wäre nichts passiert, als ginge sie das nichts an. Es war nur ein flüchtiger Augenblick gewesen, aber der leere Blick der Frau allzu deutlich. Der Schmerz, als Hirka erkannt hatte, dass sie nicht eingreifen, nicht einmal etwas sagen würde.

      Hirka wusste es jetzt. Sie konnte so vielen helfen, wie sie wollte, aber wenn es darauf ankam, dann stand sie trotzdem allein da.

      Wo Leute sind, ist auch Gefahr.

      »Ja, es ist ein Rabe, das stimmt doch, oder, Hirka?« Ihr Name riss sie aus ihren Gedanken. Pater Brody schaute sie an, während er telefonierte. »Entweder ein Rabe oder wahrscheinlich eher ein großer Krähenvogel.«

      »Es ist ein Rabe«, sagte Hirka.

      »Ja, sicher? Ja, sicher?« Pater Brody nickte vor sich hin. »Wirklich? Danke, danke. Nein, ich verstehe. Danke trotzdem.« Er steckte das Telefon wieder in die Tasche.

      »Was sagen sie?« Hirka trat einen Schritt näher.

      »Sie sagte, sie behandeln keine Schädlinge.«

      »Schädlinge?« Hirka verstand das Wort nicht.

      »Ja, also … solche Tiere. Tiere, die man nicht in seiner Nähe haben will. Tiere, die Schaden anrichten können.«

      »Sie wollen ihn also sterben lassen?«

      »Sie schläfern sie normalerweise ein. Man soll sie nicht im Haus halten, das ist nicht erlaubt, aber ich habe gesagt, du hast ihn draußen gefunden.«

      »Du hast gelogen, für mich?«

      »Nein, nein, nein, soweit ich weiß, ist es wahr!« Pater Brody versuchte, wieder zu lächeln. Er sah immer noch so aus, als müsste er dringend pinkeln.

      Hirka setzte sich ganz außen auf die Kirchenbank.

      Schädlinge. Tiere, die man nicht haben wollte. Mochten sie doch alle im Draumheim verfaulen, jeder einzelne Mensch.

      Die Kirchentür hinter ihnen knarrte.

      »Pater Brody?« Eine dunkelhäutige Frau kam herein. Sie hatte einen engen, karierten Rock an und trug einen Ordner, den sie an ihre Brust drückte.

      »Oh, ja. Trudy …« Pater Brody sah Hirka an. »Das ist Trudy, sie will dir nur ein paar Fragen stellen. Das ist nicht gefährlich und ich hätte nie … aber die Leute fangen an, Fragen zu stellen, und wir müssen …«

      »Leute?« Hirka wusste, wer mit Leute gemeint war. Dilipa, Jays Mutter. Für sie war Hirka ein Schädling. Etwas, was man nicht haben wollte. Hirka wartete auf einen Stich von Trauer, aber der kam nicht. So war das hier eben. Das hatte sie jetzt gelernt.

      Die Frau mit dem karierten Rock reichte ihr die Hand. »Ich bin Trudy. Können wir kurz miteinander sprechen?«

      »Ich spreche nicht gut Englisch. Noch nicht«, antwortete Hirka und rutschte noch weiter ans Ende der Bank. Von dort konnte sie leichter weglaufen, wenn es nötig werden sollte. Die Frau sagte, woher sie kam, aber das klang in Hirkas Ohren nur wie zufällig aneinandergereihte Laute. Trudy setzte sich neben sie und sagte etwas in mehreren Sprachen.

      »Kennst du keine dieser Sprachen, Hirka?« Die Frau guckte sie an, als sei Hirka ein kleines Kind. Hirka schüttelte den Kopf. »Ich wohne hier. Ich spreche Englisch.«

      Trudy warf Pater Brody einen besorgten Blick zu. Er zuckte mit den Schultern. »Wir haben alles versucht. Niemand konnte ein Land nennen, von dem sie wenigstens schon einmal gehört hat. Am Anfang hat sie ihre eigene Sprache gesprochen, aber dazu haben wir sie danach nicht mehr ermuntern können.«

      Hirka blickte sich um und tat, als verstünde sie das Gespräch nicht. Es gab einen guten Grund, warum sie ihre eigene Sprache nicht mehr sprach. Denn das veranlasste alle zu fragen, woher sie kam, und wenn sie die Wahrheit sagte, hielt man sie für verrückt oder für ein bisschen gestört. Wie Vetle. Mit dem Gedanken an Vetle überkam sie eine Lawine aus Erinnerungen: Ramoja, Eirik, das Rauschen von Flügelschlägen, wenn die Raben jeden Morgen über Ravnhov flogen.

      Sie schaute hinaus in den Himmel, aber er war hier kahl. Leer. Rabenlos.

      Pater Brody sprach weiter: »Wir hatten mal einen Norweger mit Verwandtschaft auf Island hier. Er sagte, da gebe es gewisse Ähnlichkeiten, aber er verstand kein Wort von dem, was sie sagte. Wir sind ziemlich sicher, dass sie das Gedächtnis verloren hat. Kann sein, dass sie eine eigene Sprache erfunden hat. Das ist doch möglich, oder?«

      Trudy