Auch hierher nicht.
Sie schob die Hand in die Tasche, holte drei Blutsteine heraus. Ein Geschenk von Jarladin. Der Ratsherr hatte sie vor ihrer Abreise im Umhang versteckt. Sie hätten für ein ganzes Leben in Mannfalla gereicht. Was sie hier wert waren, konnte sie beim besten Willen nicht sagen. Sie hatte keinen Ort gesehen, an dem man Steine kaufte und verkaufte. Es wollte sie auch kein Laden haben.
Dann war da das Buch von Hlosnian. Ein Geschenk, das den Steinflüsterer mehr gekostet haben musste, als sie sich vorstellen konnte. Rime hatte es ihr in der Nacht gegeben, als sie fortgegangen war.
Hirka hörte das Schlagen von Flügeln. Kuro landete auf dem Fenstersims und zwängte sich durch die Lüftungsklappe. Er segelte hinunter und legte sich in der Schublade zurecht. In letzter Zeit stimmte etwas nicht mit ihm. Er hüpfte so selten. Stattdessen ging er meistens. Sie hatte sogar gesehen, dass er umkippte. Er machte einfach einen niedergeschlagenen Eindruck. Vielleicht hatte der Rabe es auch schwer, so wie sie. Hatte es schwer, in dieser toten, gabenlosen Welt Nahrung zu finden.
Wenigstens hatten sie einander. Sie hätte die letzten Monate ohne ihn kaum überstanden.
Hirka legte Hlosnians Buch auf den Schoß. Es war schwer, in braunes Leder gebunden und mit Riemen versehen, mit denen sie es verschließen konnte. Sie hatte eine runde Scheibe auf dem Buchdeckel befestigt. Ein alter Kompass, hatte Pater Brody erklärt. Sie hatte ihn auf dem Friedhof gefunden. Die Nadel zeigte immer nach Norden und es half ihr, sie anzustarren, wenn die Welt sie schwindelig machte.
Hirka schlug das Buch auf. Sie war in Lesen und Schreiben nie gut gewesen, nur ein kleines Lot besser als Vater. Dennoch hatte sie viele Seiten mit unbeholfenen Worten und Zeichnungen gefüllt: eine Karte über die nähere Umgebung, Zeichnungen von Pflanzen, Bilder, die sie auf der Straße gefunden hatte, ein totes Blatt, Bonbonpapier, kleine Stofffetzen.
Am Anfang hatte sie alles gesammelt. Jede Kleinigkeit war neu und herzzerreißend schön. Sie hatte auch Dinge aufgeschrieben, die sie Rime erzählen wollte, aber das hatte mit jedem Tag mehr wehgetan und sie hatte es darum aufgegeben.
Doch neue Wörter schrieb sie weiterhin auf. Nach und nach hatte sie sich eine Aufteilung ausgedacht. Auf eigenen Seiten hielt sie Wörter für Dinge fest, die sie von früher kannte: Stuhl, Fenster, Brot, Regen. Auf anderen trug sie Wörter für Dinge ein, von denen sie nie geglaubt hätte, dass es sie gibt: Telefon, Schokolade, Asphalt, Sonnenbrille, Waschmaschine, Benzin.
Sie holte den Bleistift heraus und schrieb das neue Wort auf, das sie von Jay gelernt hatte. Wikinger: lebten vor tausend Jahren in Schiffen.
Sie schaute Kuro an. Er war in der Schublade eingeschlafen. Die Federn am Kopf vibrierten, wenn er atmete. Sie hob den Bleistift und begann wieder zu schreiben.
Überleben: existieren, klarkommen, nicht sterben.
Der Fremde
Das meiste bleibt einem erspart, solange man sich nützlich macht.
Eigentlich sollte niemand in einer Kirche wohnen, so viel hatte Hirka begriffen. Jedenfalls niemand wie sie. Sie sagten, dies sei Gottes Haus, aber er war seit Hirkas Ankunft nicht hier gewesen, darum bezweifelte sie, dass er es oft nutzte. Pater Brody hätte sie schon längst hinauswerfen oder die Polizei holen können. Was hatte Jays Mutter noch gesagt? Er hätte die Kinderfürsorge holen können.
Doch das tat er nicht. Nicht, solange Hirka Kleider wusch, auf Kinder aufpasste, Schnee schippte und Einkäufe erledigte. Er hatte sie nie darum gebeten. Sie hatte einfach damit angefangen, so wie sie es in der Teestube bei Lindri gemacht hatte. Nach ein paar Tagen stellte niemand mehr Fragen. Weder, woher sie kam, noch, was sie hier wollte.
Und dennoch, das Gefühl, nach dem sie sich sehnte, blieb aus. Das Gefühl, zu Hause zu sein, eine Familie zu haben. So fühlte es sich nicht an. Es gab viel zu viele Menschen und keiner davon wusste, aus welcher Familie sie stammte. Sie war immer noch eine Fremde in einer wahnsinnigen Welt.
Jedes Mal, wenn die Eindrücke sie zu überwältigen drohten, konzentrierte sie sich auf etwas, das sie kannte: auf den Einkaufszettel, den sie in der Hand hielt; das Gefühl von Papier, fast genauso wie zu Hause; winterkahle Bäume in Gärtchen in einer hektischen Stadt. Oder Dinge, die neu waren, ihr aber gefielen. Das Geräusch von Stiefeln auf pappigem Schnee. Stiefel waren eine gute Sache. Sie gingen nicht kaputt, wurden nie nass. Sie hatte ein Paar gelbe, die sie von Pater Brody bekommen hatte.
Gelbe Stiefel. Was für eine Welt.
Sie holte tief Luft und ging in das Geschäft. Das Licht stach in den Augen. Menschen hatten unfassbar viel Licht. Laternen entlang der Straßen, in den Fenstern. Sie waren umgeben von Feuer ohne Flammen.
Sie ging zum Tresen und lächelte so breit wie möglich die Frau an, die ihr beim letzten Mal geholfen hatte. Es war wichtig, fröhlich und zufrieden auszusehen. Und es war wichtig, etwas nicht zu sehr zu wollen. Nichts konnte Türen so erfolgreich schließen wie Verzweiflung.
Die Frau erwiderte das Lächeln. Sie war füllig und trug einen engen Gürtel um den Bauch, durch den sie wie eine Sanduhr aussah. Hirka hatte den Einkaufszettel auswendig gelernt, ihn zur Sicherheit aber mitgenommen. Die Frau war ihr behilflich, Kaffee, Kekse, Klopapier und andere Dinge zu finden, die sie in der Kirche brauchten. Grauenvollen Tee. Hirka hatte ihn probiert und hätte ihn nicht einmal ihrem ärgsten Feind vorgesetzt. Wurde alles so, ohne die Gabe?
Die Frau legte die Quittung in ein Buch und Hirka durfte die Waren mit nach draußen nehmen. Jetzt war es dunkler und Wind war aufgekommen. Schnee häufelte sich auf die Straßenlaternen. Sie zog die Kapuze des Regenponchos über. Es war eine Art Umhang, nicht besonders warm, aber er wog überhaupt nichts und man wurde nie nass. Und sie konnte ihn so klein zusammenrollen, dass er Platz im Mund gehabt hätte. Sie hatte es ausprobiert, nur um zu sehen, ob es ging. Zu Hause hätte ihr das niemand geglaubt.
Sie blieb plötzlich stehen. Im Café direkt vor ihr saß eine bekannte Gestalt. Sie drückte sich an die Wand und spähte durchs Fenster. Der Mann im Café hatte sie nicht gesehen. Das war derselbe Mann, der auf der Bank bei der Kirche gesessen hatte. In Lederjacke und grauem Pullover mit Kapuze. Er saß mit dem Rücken zu ihr.
Hirka schlich um die Ecke und stellte sich an ein anderes Fenster. Jetzt konnte sie ihn besser sehen. Er hielt eine Tasse in der einen und ein Telefon in der anderen Hand. Er war vielleicht doppelt so alt wie sie. Bürstenhaarschnitt und Dreitagebart. Er saß auf einem hohen Hocker und wippte mit dem Fuß.
Sie stellte den Beutel auf dem Boden ab und beugte sich weiter vor. Von ihrem Atem beschlug die Scheibe.
Er drehte sich um und guckte sie direkt an. Hirka schnellte vom Fenster zurück. Sie bekam heiße Wangen. Kurz überlegte sie, ob sie winken oder weglaufen sollte. Sie lief weg.
Ihre Stiefel klatschten im Schneematsch, im Takt mit ihrem Herzschlag. War er der Einzige? Hatte sie nicht auch schon andere gesehen? Leute, die sie auf der Straße heimlich anstarrten? Leute, die sich an der Kirche herumtrieben, aber nicht hineingingen? Fiel sie wirklich so sehr auf, dass das ein Grund war, sie anzuglotzen?
Sie entdeckte plötzlich den Kirchturm und ihr fiel der Einkaufsbeutel wieder ein. Der war noch vor dem Café. Sie blieb stehen und erinnerte sich, dass ihr so etwas früher schon einmal passiert war.
Die Erinnerung kam. Vater im Rollstuhl. Die Hütte. Hirka hatte auf der Treppe gestanden und den Korb mit den Kräutern an der Alldjup-Schlucht vergessen. Bei der abgestürzten Tanne, von der Rime sie gerettet hatte.
Eine Kerbe für mich, wenn ich dich heraufziehe.
Die Bilder waren so lebendig, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Sie schluckte. Das war in einem anderen Leben. In einer anderen Zeit. In der Welt, die sie nie wiedersehen würde.
Sie machte kehrt und ging zurück