Er schlug das Buch zu. Er hatte Lügen satt. Jetzt brauchte er Wahrheit.
Rime fand eine Hirtin, eine grauhaarige Frau mit Tintenflecken an den Fingern, und fragte sie nach Büchern über die Gabe.
»Zwei Stockwerke nach oben«, antwortete sie und zeigte ihm den Weg. »Der Bereich im Südwesten, Regal zwölf. Ich hole gern die Bücher her, die du suchst.«
»Danke, aber ich suche gern«, antwortete er. Sie lächelte herzlich, als hätten sie etwas gemeinsam.
Rime stieg die Treppen hoch. Er fand das zwölfte Regal und ging es ab. Hier standen hauptsächlich Gedichtbände. Über die Gabe, über die Natur, über die Liebe. Aber hier gab es auch andere Dinge … Er zog ein Buch mit einem grünen Einband heraus. »Ursprung« hieß es. Er spürte, wie es überall im Körper kribbelte. Erwartung. Hoffnung. Die Seiten waren so dünn, dass er fürchtete, sie könnten zwischen seinen Fingern schmelzen. Er begann zu lesen. Ungeduldig.
Die Gabe, die Quelle des Lebens … War aus alter Zeit hier … Kam mit den Ersten. Mit der Schöpferkraft … Das Gleichgewicht.
Er übersprang Wörter, Absätze, ganze Seiten. Dies hier war nichts Neues. Aber dann …
… Das Verlangen der Nábyrn nach der Gabe kostete so viele das Leben, dass daraus die Redensart ›eine Leiche für jeden Raben‹ entsprang. Ich jedoch bin der Überzeugung, dass der Tod, den sie verursachten, uns auch die Stärke verlieh, die wir brauchten, um sie zu bekämpfen. Tod bekämpfte Tod. Der Seher selbst ist ein Blinder und formt die Gabe so, wie es kein Ymling vermag. Nichtsdestotrotz ist Blindwerk in allen Winkeln von Ymsland gefürchtet und verachtet. Die Gabe – so wie die Blinden sie gebrauchten – wird als Spott betrachtet. Sie wird zu sehr mit ihnen in Verbindung gebracht. Mit Verrottung und Zerstörung. Sogar mit dem Verlust unserer Seele, behauptet das Volk unter dem Eis im Norden.
Rime schloss das Buch.
Blindwerk. Die Gabe – so wie die Blinden sie gebrauchten.
Er hatte es mit eigenen Augen gesehen. Wie rasch sie sich bewegen konnten und den Wasserfall, der zu Sand wurde. Über den Rand floss wie in einem Stundenglas. Was war es denn anderes als Blindwerk? Zauberei. War es nur Blindwerk, das die Steine aufwecken konnte? Urd hatte es getan …
Rime hörte hinter sich einen Knall und zuckte zusammen. Drehte sich um. Da stand sie. Der Frau, die er vorhin gesehen hatte, war ein Buch auf den Boden gefallen. Was war er eigentlich für ein Schwarzrock, dass er nicht mehr wusste, was im selben Raum geschah? Er reichte ihr das Buch. Sie lächelte und schaute unter schweren Augenlidern zu ihm hoch. Den Blick kannte er. Selbstsicher. Anziehend. Doch die Tändelei wirkte nicht gespielt. Schien Teil ihres Wesens zu sein. Ihre Lippen waren ungewöhnlich voll. Als forderten sie zur Berührung auf. Es war schwierig, sie nicht anzustarren.
»Ich habe dich schon einmal gesehen«, sagte er.
Sie nahm das Buch entgegen. Legte es oben auf die anderen, die sie trug, und schlüpfte an ihm vorbei. Ihr Arm streifte ihn. Er roch den Duft von Blumen. Sie ging zur Galerie. Ihr Schwanz schwang bei jedem Schritt hin und her. Er war mit klirrenden Ringen geschmückt. Das Haar hing ihr bis zur Mitte des Rückens herab, dicht und glatt, in der Farbe von Kohle.
Sie schaute über die Schulter zurück.
»Ich habe für dich getanzt, Rabenträger«, sagte sie so sanft, als sei das die erste Zeile eines Gedichts.
Er folgte ihr und wusste, dass sie genau das wollte. Sie legte die Bücher auf ein Lesepult, zwei Bücher über Tanz und eins, von dem er den Titel nicht erkennen konnte.
»Für mich hat niemand mehr getanzt, seitdem ich ein Junge war«, entgegnete er.
»Hast du deine eigene Weihe vergessen, Rabenträger?«
Sie hatte recht. Jetzt fiel es ihm ein: der Tag, an dem er Rabenträger wurde, das Fest, die Tänzerinnen auf der Treppe.
»Rime, mein Name ist Rime.«
»Ja, wir haben wohl keinen Raben mehr, der getragen wird …«
Ihre Worte waren befreiend direkt. Die Haare fielen ihr nach vorn über die Schulter und sie strich sie mit einer schmalen Hand wieder zurück. Diese kleine Bewegung war an sich schon ein Tanz. Alles, was sie tat, schien eine Geschichte zu erzählen. Unschwer konnte er sich vorstellen, dass Männer bereit waren, viel Geld zu bezahlen, um sie tanzen zu sehen.
Am Hals war ihre Bluse offen. Der Stoff floss über ihre Brust auf eine Weise, die unmöglich nicht ins Auge fallen konnte. Sie stapelte die Bücher neu. Das Buch, dessen Titel er nicht hatte erkennen können, lag jetzt oben. »Die Kunst der Lust« stand darauf zu lesen, über einer Zeichnung von einem Mann und einer Frau in einer unmöglichen Stellung.
Rime fühlte sich plötzlich verunsichert. Wie in einem Kampf, wie in dem Augenblick, in dem der Gegner die Oberhand gewann. Er räusperte sich, wandte sich zum Gehen. Sie hielt ihn mit einer warmen Hand auf seinem Arm auf.
»Ich bin Damayanti«, sagte sie. »Aber das weißt du ja schon.«
Er schaute sie wieder an. »Nein. Vergib mir, wenn ich es wissen sollte.«
Sie fuhr sich mit einem Finger über die Lippen, wie um in ihn hineinzubeißen. Doch das tat sie nicht. »Wirklich nicht? In dem Fall sagt das einiges über dich aus.«
Ihr Blick fiel auf das Buch, das er in der Hand hielt. »Aber ich habe von dir gehört, Rabenträger. Wonach du suchst, steht in keinem Buch. Und die es wissen, würden kaum wagen, es zu flüstern.«
Sie nahm ihre Bücher, drückte sie an die Brust und kehrte ihm den Rücken zu. »Aber das gilt nicht für alle. Komm doch mal vorbei und schau dir an, wie ich tanze. Rime.«
Sie ging. Er folgte ihr mit Blicken. Sie hatte von ihm gehört. Das hatten alle, doch er dachte nur selten darüber nach, was genau sie gehört hatten. Jetzt war unfreiwillig seine Neugier geweckt. Der Rat wollte, dass er eine Familie gründete, sich eine Frau nahm. Was würden sie sagen, wenn er mit einer Frau wie Damayanti ankam? Mit einer Tänzerin?
Sie würden die Vorstellung hassen. Sie würden toben, drohen, würden sich die wenigen Haare, die noch übrig waren, raufen.
Rime konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Schädling
Der Apfel war frisch und grün. Kein bisschen schrumpelig oder schimmelig, nicht das kleinste Anzeichen von Fäulnis. Nach wie vielen Wochen? Nach vielen …
Hirka drückte mit dem Finger auf die Schale, aber sie gab nicht nach. Draußen auf dem Friedhof spreizten die Bäume ihre kahlen Äste, aber dennoch hatte sie einen Apfel, der aussah, als hätte man ihn gestern erst gepflückt.
Sie legte ihn auf das Fensterbrett. Die anderen konnten machen, was sie für richtig hielten, aber sie würde nicht in etwas beißen, das sich weigerte zu sterben. Sie war doch nicht dumm. In den Märchen war so etwas immer vergiftet.
Kuro scharrte mit den Krallen in der Schublade. Er schlief. Das war alles, was er in letzter Zeit tat. Er aß auch kaum noch. Genauso wenig wie sie. Sie kniete sich auf die Matratze und tickte leicht seinen Schnabel an. »Du kannst hier nicht nur rumliegen«, sagte sie, ohne dass sie sich ganz sicher war, ob sie damit sich oder den Raben meinte. Immerhin war sie schon seit Tagen nicht mehr draußen vor der Kirche gewesen. Die Erinnerung an den Mann mit der Kapuze war immer noch viel zu frisch. An seine Hand, die nach Tabak geschmeckt hatte. An die Kraft in seinen Armen, an die Stimme.
Ja, sie hatte es unbeschadet überstanden und sie hatte schon Schlimmeres überlebt, viel Schlimmeres. Aber das half nichts. Sie war nicht sie selbst in dieser sinnlosen Welt. Sie fühlte sich so allein, so wehrlos.
Schwarzfeuer hätte sich kaputtgelacht, wenn