Widerwillig packte sie auch den unsterblichen Apfel ein. Er war wohl besser, als zu verhungern. Sie zog ihr grünes Strickhemd an. In dem hatte sie alle Abenteuer bestanden und das war dem Stück deutlich anzusehen. Aber es erinnerte sie daran, wer sie war. Das Messer steckte sie so in die Wollsocke, dass es am Stiefelschaft festgeklemmt war. Sie konnte das Messer herausziehen, ohne dass sich das Futteral löste. Sie probierte es mehrmals aus, bis sie sicher war, dass es funktionierte.
Hirka zog den Regenponcho über, setzte die Kapuze auf und schulterte den Beutel. Dann hob sie den Karton mit Kuro hoch, warf einen letzten Blick auf das schöne Fenster und ging die Treppe hinunter.
Es war Nacht und niemand würde sie hören. Trotzdem öffnete sie unten die Tür so leise wie möglich. Die Kirche war ein leerer grauer Raum. Es rauschte da drinnen, als sei das Echo aller Besucher im Lauf der Jahrhunderte dort hängen geblieben. Die Dunkelheit lag zwischen den Bankreihen wie schwarze Abgründe. Die Glasmalereien waren in der Nacht verblasst, hatten die Farben ausgemacht, waren eingeschlafen.
Sie ging den Mittelgang entlang. Das Gefühl, beobachtet zu werden, verschwand erst, als sie die Ausgangstür erreicht hatte. Sie drehte den Schlüssel um, der im Schloss steckte. Dann wandte sie sich zum Altar um, zu dem Gemälde von der verletzten Gestalt und der Taube, die sie für Odin gehalten hatte. Für den Gott der Menschen. Aber das Ganze war komplizierter, das hatte sie begriffen. Egal, wer der Vogel war, er blieb stumm.
»So … Jetzt hast du dein Haus wieder für dich«, flüsterte sie und schlüpfte hinaus in die Winternacht.
Nachts war die Stadt erträglicher. Ruhiger. Keine Autos. Und die Geräusche, die da waren, verstand man besser. Betrunkene waren Betrunkene, egal, in welcher Welt man sich aufhielt. Das war immerhin etwas. Wenn sie blinzelte, konnte sie sich beinahe vorstellen, sie ginge die Daukattgata entlang zu Lindris Teestube. Bis ein leerer Nachtbus vorbeifuhr und die Illusion zerstörte.
Hirka ließ die Kirche hinter sich und folgte den Straßenlaternen nach Osten. Hielt sich von allen Gassen und Hinterhöfen fern. Versuchte sich selbst immer wieder daran zu erinnern, die Schultern zu entspannen. Sie war allein. Hier war niemand, der hinter ihr her war.
Hirka hatte sich ihre Zeichnung im Buch angeschaut. Die Karte. Sie glaubte, sie würde Jays Haus finden. Sie wusste, dass sie dort nicht bleiben konnte, aber sie musste ihr Bescheid sagen. Jay war nicht so taff, wie sie immer tat. Und Hirka glaubte nicht, dass sie noch viele andere Freunde hatte. Hirka konnte nicht einfach ohne eine Erklärung abhauen. Außerdem hatte Jay vielleicht gute Tipps, wohin sie gehen konnte. Das war ihre einzige Hoffnung.
Die Luft fühlte sich schwer an. Bald würde es anfangen zu schneien. Der Weg gabelte sich und sie wollte zu dem alten Haus, das sich über die Straße neigte. Sie sah aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Hob den Blick. Was war das? Hatte sie jemanden auf dem Dach gesehen? Hirka hatte im Dunkeln schon immer gut gesehen, aber auch sie konnte sich täuschen. Die Leute hier trieben sich nicht auf den Dächern herum, so viel hatte sie schon mitbekommen. Sie kniff die Augen zusammen, doch der Schatten war fort.
Ob er das war? Der mit dem Kapuzenpulli?
Sie schaute hinunter zu Kuro. Er lag im Karton unter dem Handtuch versteckt und war keine Hilfe. Hirka biss sich auf die Unterlippe, versuchte, die zunehmende Sorge in ihrer Brust zu dämpfen. Sie guckte sich um. Fremde Straßen und Häuser. Eine unbekannte Stadt in einer unbekannten Welt. Was sollte sie machen? Sie konnte nicht zu Jay und ihrer Mutter nach Hause gehen, wenn sie von jemandem verfolgt wurde.
Warum sollte mich jemand verfolgen? Du bist ein Niemand!
Hirka lief die Straße entlang. Zurück in dieselbe Richtung, aus der sie gekommen war. Sie hörte, wie Kuro im Pappkarton kratzte. Er hatte Angst, aber sie traute sich nicht, stehen zu bleiben. Vom Laufen wuchs die Angst. Sie linste zu den Dächern hoch, konnte aber niemanden sehen. Sie entdeckte den Kirchturm wieder. Doch die Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Bis sie die Gestalt auf der anderen Straßenseite sah. Der Mann verzog sich schnell in die Schatten, aber jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Sie wurde verfolgt.
Du bist früher schon gejagt worden. Streng deinen Kopf an!
Was würde sie tun, wenn sie hier die Gabe hätte? Sie würde die Angst auseinandernehmen, daraus Stärke ziehen, sie als das sehen, was sie war, und eine Lösung finden.
Sie überquerte den Friedhof, zwischen den Steinen der Toten hindurch, und schlich auf die Rückseite der Kirche. Wer sie verfolgte, würde glauben, sie sei wieder hineingegangen. Hoffte sie.
Sie schob den Karton oben auf die Friedhofsmauer und zog sich danach an den vereisten Kletterranken hoch. Sie knarrten und drohten von der Mauer abzubrechen, doch sie hielten. Sie sprang auf der anderen Seite hinab und zog den Karton herunter. Sie musste einen anderen Ort finden. Jetzt. Sie versuchte still zu sein, doch beim Ein- und Ausatmen zischte ihre Lunge. Wohin sollte sie gehen? Wohin?
Das Gewächshaus …
Wo Pater Brody ihr die Pflanzen gekauft hatte. Wo man Kräuter anbaute. Auch im Winter. In Gewächshäusern, in denen keine Menschen wohnten. Dorthin konnte sie gehen. Dort wäre es sicher. Erinnerte sie sich noch, wo das war? Sie glaubte schon.
Hirka drückte den Karton fester an sich und begann wieder zu laufen. Sie folgte der Kälte bis hinunter zum vereisten Fluss. Die Bäume zeichneten sich weiß vor dem schwarzen Himmel ab. Die Zeit des Todes. Wäre alles anders gewesen, wenn sie im Frühling hierhergekommen wäre? Wenn alles lebte, spross und sang?
Sie nahm den Pfad am Flussufer entlang, bis sie sich direkt unterhalb des Gartens mit dem Gewächshaus befand. Alles war mit Eis und Schnee bedeckt. Kleine Wasserpfützen waren zu Spiegeln gefroren. Sie zerknackten unter ihren Stiefeln, den ganzen Weg hinauf zum Gewächshaus. Es war durchsichtig gewesen, als sie das letzte Mal hier gewesen war, doch jetzt war das Glas beschlagen. Draußen war keine Menschenseele zu sehen, deshalb musste sie darauf vertrauen, dass auch niemand drinnen war. Ihr blieb keine andere Wahl. Sie musste sich verstecken.
Hirka lauschte. Eine Sirene heulte in der Ferne. Und da war auch noch etwas anderes, ein Surren. Aber das konnte alles Mögliche sein. Alles dröhnte oder rauschte hier. Sie ging an der Glaswand entlang, bis sie die Tür fand. Kuros Kopf lugte unter dem Handtuch im Karton hervor. Sein Schnabel war halb offen. Bewegungslos. Hoffnungslosigkeit hüllte sie ein. Sie konnte ihm nicht helfen. Die Kräuter in ihren Beuteln waren fast aufgebraucht und hier gab es keine neuen Pflanzen, die sie hätte pflücken können. Jedenfalls keine, mit denen sie sich auskannte. Keine, die Kuro helfen konnten. Und Rabner gab es hier auch nicht.
»Alles wird gut. Versprochen«, flüsterte sie.
Sie schob die Tür auf und schlüpfte hinein. Dort war es warm. Ein Weg aus Steinplatten führte durch die Reihen mit den fremden Pflanzen. Alle waren im Dunkeln farblos. Einige glichen Gewächsen zu Hause, aber immer gab es etwas, das anders war. Wie sollte sie etwas von denen hier verwenden? Sie konnten ebenso gut töten wie heilen. Eine ganze Welt von neuen Pflanzen zu bestimmen … Das würde bis zum Ende ihres Lebens dauern.
Bei dem Gedanken überkam sie unerwartete Ruhe. Das wäre zumindest eine sinnvolle Aufgabe.
Sie lief den Weg weiter bis zu einer kleinen Abseite in der hintersten Ecke, wo es noch wärmer war, stickig. Das Surren, das sie gehört hatte, kam von einem Ventilator, der dort über der Tür angebracht war. Die Fenster waren beschlagen, doch den Sternenhimmel konnte sie durchs Dach sehen.
Kuro gab einen Laut von sich, einen halb erstickten Schrei.
»Nein! Hör mal!« Hirka stellte den Karton ab und hob den Vogel heraus. Sein Kopf hing herab, er atmete schnell und stoßweise. Sie drehte ihn um. Tastete den warmen Vogelkörper nach Verletzungen ab, aber das war, wie im Dunkeln zu tappen. Was wusste sie eigentlich über Raben? Nichts.
»Du brauchst nur eine bessere Stelle zum Liegen«, sagte sie mit belegter