»Sie haben ihn zu Tode gejagt«
Inge Lemme
und der Tod ihres Sohnes Hans-Georg in der Elbe
35 Jahre ist das jetzt her mit Hans-Georg und 20 Jahre die Wende«, sagt Inge Lemme, seufzt und macht eine lange Pause. »Ja.«, sagt sie und verstummt. Wie soll man auch seine Gefühle beschreiben? Wie mag jemand die Öffnung der Grenze erlebt haben, der an dieser Grenze sein Kind verloren hat? Inge Lemme, im April 2009 ist sie 80 Jahre alt geworden, sie wirkt, als mache sie nicht viele Worte, vor allem nicht unüberlegt. Ihr Mann Georg ist verstorben. Die Witwe sieht bedeutend jünger aus als 80, die Haare sind zu einem frechen Pagenkopf geschnitten, sie ist schlank, man könnte sie als ein ruhiges Wesen bezeichnen, aber auch als starke Frau, ihre kleinen Augen strahlen. Sie ist das, was man gewöhnlich gefasst nennt. 1989, das sei für sie eine schlimme Zeit gewesen, als die Wende kam, »das war ganz schlimm«.
Jahrzehntelang war die Elbe, der Grenzfluss, für sie und alle anderen unerreichbar. Als 1989 nach der Öffnung der Grenzen die ersten Fähren wieder über die Elbe verkehren, kann sie sich nicht freuen. »Wir haben hier mal eine Dampferfahrt gemacht«, erzählt sie, »da musste ich weinen. Aber was will man machen. Es ist geschehen und man muss damit fertig werden. Das ist immer schlimm, wenn ich über die Elbe rüberfahre, dann kommen immer die Gedanken. Es hat so sollen sein. Hans-Georg war ja im Wasser zu Hause. Er war ja im Sommer jeden Tag baden. Jeden Tag im Wasser. Die Haare waren ganz ausgeblichen im Sommer vom Baden. Und da ist er nun drin umgekommen. Es ist schmerzlich, sehr schmerzlich. Weil er ja doch ein guter Junge war und der achte Lemme auf unserem Hof. Und er hat gekämpft, gekämpft. Er wollte es schaffen. Aber es ist anders gekommen. Und wie alles genau abgelaufen ist, das weiß man nicht. Ich habe zu der Zeit auf dem Sofa gelegen, und auf einmal wurde mir ganz leicht und da ist er wahrscheinlich gestorben.«
Am 19. August 1974 ist Hans-Georg Lemme, damals 21 Jahre alt, in der Elbe umgekommen, er wurde getötet. Seine Eltern Inge und Georg sind damals Genossenschaftsbauern in der LPG von Groß Breese bei Wittenberge in der Prignitz. Zu DDR-Zeiten gehörte dieser Landstrich zum Bezirk Schwerin, heute liegt das Dorf in Brandenburg. Das Ehepaar hat zwei Kinder, Eva-Maria und Hans-Georg. Als Kind, erinnert sich Inge Lemme, ist ihr Sohn immer sehr waghalsig gewesen, ein richtiger Draufgänger, immer habe er mit den viel älteren Kindern im Dorf gespielt. Und sportlich war er, erzählt sie, sehr sportlich. Sie hat noch einen ganzen Schwung Medaillen, die ihr Sohn mit nach Hause gebracht hat. Im Schwimmen sei er besonders gut gewesen.
1974 ist Hans-Georg mit der Schule fertig, er hat eine Zulassung zum Studium in der Agraringenieurschule in Fürstenwalde, aber zunächst muss er zur Armee, nach Schwerin. »Da hatte er Angst vor«, erzählt seine Mutter, »das muss ganz schlimm für ihn gewesen sein. Er war dann noch im Juli auf Urlaub, und wie er wieder wegfuhr, da sagt er, was das da für ein Sauhaufen ist, das könnt ihr euch nicht denken!« Der Vater versucht ihm Mut zuzusprechen, erzählt sie, er habe immer zu dem Sohn gesagt, »das schaffst du! Die Zeit vergeht.« Hat aber alles nichts genützt, sagt sie. Sie kann es kaum aussprechen, »er hat ja das Schlimme dann doch gemacht und ist weggerannt. Dann macht er so was! Läuft weg!«
Am Sonntag, den 18. August 1974, kommt der Sohn zu Besuch. Die Familie isst gemeinsam zu Mittag. Und dann, so erinnert seine Mutter sich, ist er gegen 14 Uhr mit dem Fahrrad aus dem Dorf gefahren. Ob er einen Freund oder seine Freundin besuchen will, bevor er zurück in die Kaserne muss? Sie fragt damals nicht nach, aber ein Bild hat sie noch im Kopf: »Wir hatten von der LPG Bananen und Pfirsiche bekommen, es war ja Erntezeit. Als ich aus dem Fenster guckte, da kam er gerade mit dem Fahrrad. Und da habe ich gefragt: Möchtest du noch eine Banane? Ja gerne, sagte er. Und dann ist er aus dem Dorf gefahren und hat sich nicht mal umgeguckt.«
An diesem Tag ist Inge Lemme ahnungslos. Später hat sie versucht, sich das Ganze zu erklären. Einen Tag nach diesem Augustsonntag, am darauffolgenden Montag, sollte Hans-Georg in Bützow eingesetzt werden, zum Wachdienst im Gefängnis, politische Gefangene bewachen. »Die dachten so wie er, und die sollte er nun bewachen«, erzählt sie. An sich sei Hans-Georg gar nicht für die Politik gewesen damals, »wir alle nicht«, sagt sie, obwohl ihr Mann ja LPG-Vorsitzender war und sie alles gemacht haben, was von ihnen verlangt wurde. »Aber«, so sagt sie auch, »wir haben ja alle nur nach Westen geguckt.« Sie erinnert sich an eine Situation, in der ihr Sohn zu ihr gesagt hat, »ich hau hier noch mal ab«. Und die Mutter, sie hat geantwortet: »Die machen die tot.« Da hat sie noch nicht ahnen können, dass ihr Sohn bei dem Versuch, die Elbe zu durchschwimmen, umkommen wird. Und es sprudelt regelrecht aus ihr heraus: »Aber da hatte er gedacht, weil er so schwimmen konnte ... Er konnte so lange tauchen wie kein anderer, der konnte so lange wegtauchen. Die haben ihn richtig zu Tode gejagt. Dann soll er noch angeschossen worden sein. Bei Cumlosen soll er in den Wald gegangen sein, mit einer angeschossenen Schulter ist er ins Wasser gegangen. Und dann ist das ja ein Ende zu schwimmen! Die haben ihn richtig zu Tode gejagt, er wird auch gedacht haben, er will nicht wieder zurück. Und das war dann sein Ende.«
Von all dem weiß Inge Lemme am Abend des 18. August 1974 noch nichts. Gegen 18 Uhr kommt die Volkspolizei auf den Hof. Sie und ihr Mann Georg sind gerade dabei, die Kühe zu melken. Die Polizei sucht alles ab, will wissen, ob die Familie Verwandte im Westen habe. Sie suchen Hans-Georg. Er hätte längst zurück sein müssen in der Kaserne. Er ist weggeblieben. Sofort wissen Inge und ihr Mann, dass ihr Sohn versucht abzuhauen. »Wir haben geglaubt, er schafft es.« Die Polizisten bleiben, am Sonntag, am Montag, am Dienstag. Sie warten, passen auf, dass die Lemmes mit niemandem telefonieren. Am Dienstag bringen sie die Hose von Hans-Georg. »Und da steckte noch sein Kamm drin«, erzählt seine Mutter, »und ein Taschentuch von uns, das kannte ich alles ganz genau.« Drei Wochen lang fehlt von Hans-Georg Lemme jede Spur. Es ist eine quälende Zeit der Ungewissheit und des Wartens. Hat er es geschafft? Ist er tatsächlich durch die Elbe geschwommen? Ist er vielleicht im Westen? Nicht nur die Familie wartet, auch die Genossenschaftsbauern im Dorf, Freunde, Schulkameraden, der Pastor Gottfried Winter, der Hans-Georg auch konfirmiert hat, sie alle warten.
»Am Sonnabend, am 6. September, haben sie ihn am Vormittag gebracht«, erzählt Inge Lemme, »da haben sie vorher hier angerufen, dass sie ihn jetzt bringen. Und dann stand nachher in der Zeitung, dass sie das alles mit einer schwarzen Plane verdeckt haben, das haben von drüben, vom Westen aus, welche beobachtet. Mit einer großen Plane haben sie ihn geborgen, dass keiner von drüben etwas sieht. Nach Ludwigslust haben sie ihn gebracht, und da ist er eingesargt worden. Dann haben sie ihn in einem ganz schäbigen Sarg hierher gebracht. Der ging gar nicht mehr zu, der war halboffen.« 35 Jahre später hat Inge Lemme sich mit Pastor Gottfried Winter auf dem Friedhof in Groß Breese verabredet. Gemeinsam stehen sie am Grab von Hans-Georg. Ihr Mann Georg habe sich den Leichnam damals noch angesehen, erzählt sie, mit ihr habe er aber bis an sein Lebensende nie darüber gesprochen. Sie habe das nicht gekonnt, aber ihr Mann, der habe den Sohn noch einmal gesehen. Es habe doch aber geheißen, der Sarg dürfe nicht mehr geöffnet werden, er durfte doch auch nicht aufgebahrt werden, sofort sollte Hans-Georg beerdigt werden, sagt Gottfried Winter verwundert. »Der Deckel war ja gar nicht richtig zu«, erläutert sie, »er war so aufgedunsen, er hat ja drei Wochen im Wasser gelegen. Der ging wahrscheinlich nicht zu. Die eine Gesichtshälfte war eingedrückt und zertrümmert.«
Der Mutter wird damals gesagt, ihr Sohn sei in der Elbe ertrunken. »Und da habe ich noch gesagt, der ist nicht ertrunken, der konnte soooo gut schwimmen. Aber man durfte ja auch nicht viel sagen.«
Die Grube auf dem Friedhof haben die Freunde von Hans-Georg ausgehoben. Bereits am selben Abend wird der Sarg im engsten Familienkreis in die Gruft gesetzt. Gottfried Winter beerdigt Hans-Georg Lemme vier Tage später. »Das ist so mit das Schwerste, was einem als Pfarrer geschehen kann: Kinder und junge Menschen zu beerdigen. Da ringt man manchmal selber mit der Fassung«, sagt er. Bei der Beerdigung von Hans-Georg im September 1974, da sei solch eine tiefe Trauer gewesen, wie er sie nie wieder erlebt hat. Ihn hat der Tod des 21-Jährigen nicht losgelassen. Über zweihundert Menschen sind damals zur Beerdigung gekommen, alle Mitschüler von Hans-Georg, ganze Familien aus dem Dorf, »es war eine ungeheure Menschenmenge«, sagt der Pfarrer. Die Predigt von damals hat