Anfang der 1950er Jahre genießt der junge Gerd Seilkopf seine Berliner Zeit: »Wir konnten ja noch ohne große Probleme nach Westberlin rüber, wir gingen ins Kino und verbrachten viel Freizeit dort, das habe ich natürlich voll genutzt.« Von der Diktatur in der DDR habe er damals noch gar nicht so viel mitbekommen, aber bevor er seine Marielie kennenlernt, wird sein Leben von einem einschneidenden Ereignis geprägt: »Der 17. Juni 1953, das war ein umwerfendes Erlebnis«, erinnert er sich über 56 Jahre später, »man war ja die Pflichtdemonstrationen am 1. Mai gewohnt, und an diesem Tag war es mit einem Male so, als würden große Menschenmassen zusammenkommen ohne Befehl und Anordnung. Wir sind raus und sind da mitmarschiert und wir konnten kaum glauben, was geschah. Als dann aber am Nachmittag die Panzer rollten, das war dann eine richtige Erschütterung.« Der Aufstand wird damals niedergeschlagen, Gerd Seilkopf ist das klirrende Geräusch der Panzerketten bis heute unvergesslich, es sitzt fest in seinem Kopf. Seine Enttäuschung über die Unterdrückung der Bewegung vom 17. Juni ist groß, die Kontrolle und Überwachung an Universitäten und öffentlichen Einrichtungen wird in diesen Tagen, Wochen und Monaten deutlich verstärkt.
Er erinnert sich an eine Studentenversammlung an der Humboldt-Universität wenige Tage nach dem 17. Juni. Auffällig viele Männer in Ledermänteln und Trenchcoats seien da aufgelaufen, das klingt wie in einem schlechten Agentenfilm, aber damals ist allen klar: das sind ohne Zweifel Mitarbeiter des noch jungen Ministeriums für Staatssicherheit. Die Atmosphäre sei zum Schneiden gespannt gewesen, nahezu gespenstisch, erzählt er. Es habe zwar keine Massenverhaftungen gegeben, aber die Versammlung sei aufgelöst worden, nachdem sich ein Professor von den Stasi-Männern den Mund nicht habe verbieten lassen. In den Wochen danach normalisiert sich das Leben zwar wieder, aber der politische Druck wächst.
Fotos: Sigurd Müller, Bundespolizeiabteilung Ratzeburg
Im Oktober 1953 treffen sich Marie-Elisabeth und Gerd erstmals in Berlin-Hoppegarten in einem studentischen Reitclub. Marielie wohnt damals in Berlin-Mitte in der Nähe des »Walter-Ulbricht-Stadions«, das später in »Stadion der Weltjugend« umbenannt wird. In der Habersaathstraße hat sie ein Zimmer. Gerd lebt 1953 in der Nähe, und so fahren sie zusammen regelmäßig im Bus von Hoppegarten nach Hause und lernen sich näher kennen. Später wurde der studentische Reitclub in die im August 1952 gegründete »Gesellschaft für Sport- und Technik« (GST), die paramilitärische Ausbildungsorganisation der DDR, eingegliedert. Was einst nur Reitsport war, wird nun politisch. Für das junge Paar ist das der Grund, den Club zu verlassen.
Ihre Freizeit verbringen die beiden fortan lieber auf einem kleinen Paddelboot, das Marielie kaufen kann, weil sie in den 1950er Jahren regelmäßig nach Westberlin geht, um dort schwarz als Krankengymnastin zu arbeiten und ein paar Westmark zu verdienen. Die beiden lieben sich und ihre Augen strahlen auch heute noch, wenn sie sich an die Stunden auf dem kleinen Boot erinnern, an die Paddeltouren auf der Dahme im Südosten Berlins. Gerd Seilkopf schildert jene Wochen und Monate als glückliche Tage. »Es war eine lebenswerte Zeit«, sagt er. Am 23. April 1957 heiraten die beiden, im Jahr darauf bekommen sie eine Wohnung im Stadtteil Prenzlauer Berg zugewiesen. Diese Wohnung gilt als schwer vermietbar, denn in ihr wohnte zuvor ein Paar, das in den Westen geflohen ist, und nach einer solchen Flucht ist den Wohnungsverwaltungen des Arbeiter-und-Bauern-Staates damals nicht klar, wer denn nun für die anfallende Renovierung zuständig ist. Gerd renoviert die Räume selbst und schafft für seine junge Familie ein erstes gemeinsames Zuhause. Das brauchen sie auch, denn im März 1959 bringt Marie-Elisabeth ihren ersten Sohn zur Welt. Sie geben ihm den Namen Sven.
Die glücklichen Berliner Tage vergehen Ende der 1950er Jahre. Gerd Seilkopfs vom Staat vorgegebenes Betätigungsfeld liegt im Nordwesten Berlins, in der brandenburgischen Kleinstadt Kremmen. Dort soll er in der Staatspraxis als Landtierarzt arbeiten, ihm wird in den Ställen der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) seine berufliche Perspektive vorgezeichnet. Ein Leben in Kremmen kann Marielie sich nicht vorstellen, Gerd glaubt auch heute noch: Einen Umzug in die Provinz, nach Kremmen, hätte die Ehe gewiss nicht überstanden. Gerd weiß auch, als Landtierarzt im Staatsdienst sei er nicht umhingekommen, der SED beizutreten. Immerhin bekommt er als Landtierarzt einen Dienstwagen, einen blauen Trabant, zugewiesen, so kann er regelmäßig nach Berlin zu seiner Familie pendeln.
In Kremmen gibt es nach der Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft eine LPG mit einem großen Rinderbestand. Die Bauern der LPG erfüllen alle Planvorgaben, sie bauen Ställe für hunderte Rinder und setzen alles so um, wie es ihnen staatlich verordnet wird. Abweichungen werden nicht geduldet. Aber die Planung für die Rinderhaltung weist erhebliche Mängel auf, für den großen Tierbestand ist nicht ausreichend Futter vorhanden, die Erhöhung der Futterproduktion wird schlichtweg vergessen oder zumindest vernachlässigt. Im Februar und im März 1961 verenden die Rinder in Kremmen reihenweise. Eine katastrophale Situation, die Gerd Seilkopf so beschreibt: »Die Abdeckereien haben es nicht mehr geschafft, die Kadaver zu verbrennen, man hat schon angefangen, Gruben auszuheben, um die toten Rinder zu verscharren.« Was tun? Die Planvorschriften sind bindend, niemand traut sich, die Fehlentwicklung zu benennen, es sei furchtbar gewesen, die Tiere verenden entkräftet. Der Vorsitzende der LPG wird für die Verluste verantwortlich gemacht und verhaftet. Für Gerd Seilkopf ist klar: Früher oder später wird man auch ihn zur Verantwortung ziehen, als Tierarzt ist er schließlich für diese LPG und die Tiere verantwortlich, auch wenn er angesichts der Fehlplanung nichts ausrichten kann. Täglich rechnet er mit seiner Verhaftung, die Wochen vergehen, nichts passiert. Der junge Tierarzt bleibt erst einmal unbehelligt. Die Seilkopfs erinnern sich an das Frühjahr 1961 als eine Zeit voller Angst. Marielie wird das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. In jenen Tagen ist sie zum zweiten Mal schwanger.
Die Gerüchte über eine bevorstehende Schließung der Grenze wollen damals nicht verstummen. So recht können die beiden sich aber nicht vorstellen, dass es so weit kommen kann. Bis zum 13. August 1961: Um 8 Uhr morgens tritt Gerd Seilkopf auf die Straße, er verlässt die Wohnung mit dem zweijährigen Sven auf den Schultern, um zum Milchgeschäft zu gehen. Am Laden angelangt wundert er sich, dass die Kunden vor dem Geschäft stehen und ziemlich aufgeregt diskutieren. »Was macht ihr denn so ein Gesicht bei so einem schönen Wetter«, witzelt er noch. Die Entgegnung kann überraschender nicht sein: Ob er denn noch nicht mitbekommen hätte, dass Westberlin abgeriegelt worden sei? Er denkt bei sich, dass die doch wohl spinnen würden, aber die Menschen vor dem Geschäft versichern ihm, dass in den Stunden zuvor Stacheldrahtrollen gelegt worden seien.
Zu Hause angelangt, fragt Marielie den entsetzt dreinblickenden Gerd, was denn los sei. Er fordert sie auf, das Radio anzumachen, »die haben Westberlin dichtgemacht«. In Marie-Elisabeth steigt die Angst auf, sie erfasst die Situation sofort. Ihnen wird der mögliche Fluchtweg versperrt. Nur wenige Tage zuvor hat der »Genosse« Tierarzt von einem Kollegen eine Warnung erhalten: die Ermittlungen in Kremmen wären fast am Ende, warum er überhaupt noch da wäre. Nach wie vor suche man für die Verluste in der LPG Schuldige. Über eine Flucht in den Westen haben Gerd und Marielie längst nachgedacht, beim Kaffee an diesem Augustmorgen brauchen die beiden nicht mehr viel sagen. Es ist klar, wenn sie gehen wollen, dann sofort.
Ein glücklicher Umstand aus Gerds Studentenzeiten kommt ihnen nun zugute. Er hat zu dieser Zeit eine Weile in der Nähe des Treptower Parks gewohnt und weiß daher, dass das Haus Mengerzeile 14 genau auf der Sektorengrenze steht. Die eine Seite des Gebäudes steht in Westberlin, die andere im Osten, zu beiden Seiten gibt es Eingänge. Er weiß: Das ist ihre einzige Möglichkeit zur Flucht nach Westberlin,