Im Schallarchiv des Norddeutschen Rundfunks ist aus diesen Tagen auf einem alten Tonband ein Interview mit DDR-Offizieren eines Grenzkontrollbootes erhalten. Darauf berichten die Offiziere bürokratisch verbrämt und immer noch ein wenig überrascht, wie plötzlich aus Richtung Wismar jede Menge Sportboote »um die Ecke kamen«. »Auf eigenen Entschluss« habe man die Boote zunächst gestoppt. Einige Bootsleute hätten in ihren Pässen einen Visumstempel vorzuweisen gehabt. Den habe einer der Offiziere zufällig am Vortag in der »Aktuellen Kamera« gesehen, daher weiß er, dass der Stempel, der zur Ausreise berechtigt, so oder so ähnlich aussieht. »Die haben sich gefreut wie die Schneekönige«, ergänzt sein Kollege.
Die Seegrenze an der Ostseeküste war jahrzehntelang die »unsichtbare Grenze«. Keine Mauer, kein Zaun schränkte die Sicht auf den Horizont ein. Und dennoch war der 602 Kilometer lange Küstenstreifen streng bewacht, in einer 5 Kilometer breiten Grenzzone entlang der Ostseeküste galten besondere Sicherheitsvorschriften. Die 6. Grenzbrigade Küste verfügte über 70 Beobachtungsposten und sorgte sowohl an Land als auch auf See dafür, dass Flüchtlinge nicht über die Ostsee entkommen konnten. Schätzungsweise 6500 Menschen versuchten bis 1989 über die Ostsee zu fliehen. Davon gelang etwa 900 Menschen die Flucht. Mindestens 189 Menschen kamen bei einem Fluchtversuch ums Leben.2
Zwanzig Jahre nach seinem »Lebens-Erlebnis« ist Siegfried Mitschard im Ruhestand. Die sieben Angler aus Schwerin, mit denen er am 11. November 1989 nach Neustadt in Holstein fuhr, hat er danach nie wieder gesehen. Mit der Latovia hat er noch einige Touren in den Westen unternommen, auch nach Hamburg, durch den Elbe-Lübeck-Kanal. Wenn es sie noch gibt, dann schippert sie vermutlich über den Rhein. Denn gut ein Jahr nach seiner Neustadt-Fahrt hat er das Schiff an einen jungen Mann in Köln verkauft. Schließlich konnte er ja fortan fahren, wohin und so weit er wollte. Er hat sich ein neues, schnelleres Boot mit Mast und Segel zugelegt.
Zusammen mit Gerd Bollmann aus Neustadt hat er das erste deutsch-deutsche Segeltreffen organisiert. Sie sind noch heute befreundet. Die Freundschaft der Wismarer und Neustädter Segler hat zwanzig Jahre überdauert. Jedes Jahr trifft man sich, das ist längst Tradition. Nach all den Jahren muss Siegfried Mitschard dennoch schlucken, als er davon erzählt, dass in Neustadt, in der Clubgaststätte des Seglervereins, bis heute ein Bild in gewölbtem Rahmen hängt, Größe ungefähr DIN A4. Immer, wenn er vor diesem Bild steht, erzählt er, überkommt ihn so eine Art Prickeln. »Da ist Stacheldraht drin von der Grenze, von der innerdeutschen Grenze, Stacheldraht mit einem Plasteschild ›Zur Erinnerung an den Fall des Eisernen Vorhanges 1989‹. Der Werner Innecken, der Eisenwarenhändler aus Wismar, der hat, als wir damals das zweite Mal nach Neustadt gefahren sind, da hat er eine große Eisenschere mitgenommen und hat sie dem Vorsitzenden des Neustädter Seglervereins überreicht und dazu gesagt: »Wir trauen dem Frieden hier noch nicht ganz, aber wenn irgendjemand die Grenze noch mal dichtmacht, dann müsst ihr mit dieser Schere den Zaun von eurer Seite aus wegschneiden.«
»Wir hatten uns wieder, das war unglaublich!«
Jürgen Schröder,
seine Familie und ein unverhofftes Wiedersehen auf dem Hamburger Fischmarkt
Noch heute habe ich im Gedächtnis, wie meine Frau versuchte, die Hand meiner Tochter bei der Anfahrt des Zuges bis zum letzten Augenblick in ihrer zu behalten.« Diesen Satz schreibt der Schweriner Jürgen Schröder fast zwanzig Jahre später auf. Am 5. Oktober 1989 sind seine Tochter Christiane und ihr Mann Stephan in das Volkspolizeikreisamt einbestellt worden, ihr Ausreiseantrag sei genehmigt, mit sofortiger Wirkung sei das junge Paar ausgebürgert. Bis 18.00 Uhr desselben Tages habe es die DDR zu verlassen. Auf dem Schweriner Hauptbahnhof trennt die Familie sich an diesem Oktobertag und muss 1989 annehmen, dass Jürgen Schröder, seine Frau Helga und ihr Sohn Axel die Tochter Christiane ewig nicht wiedersehen dürfen, mindestens 10 Jahre lang nicht, glauben sie damals. Dass sie an diesem Abend nicht allein auf dem Bahnsteig sind, dass sie beobachtet werden von der Staatssicherheit, so meint Jürgen Schröder heute, das sei allen klar gewesen. Sie hätten versucht, in dieser Situation, »neudeutsch würde man heute sagen, cool zu bleiben«, aber so recht sei das keinem gelungen. Damals, als die Familie sich auf ungewisse Zeit trennt im Oktober 1989, kann niemand ahnen, dass die Trennung nur 37 Tage währen wird.
Bis zur Ausreise an diesem Oktobertag im Jahr 1989 ist allerhand passiert. 1988 studiert die Tochter Christiane Schröder in Aschersleben am Institut zur Ausbildung von Ökonompädagogen. Sie will damals Berufspädagoge für die berufspraktische Ausbildung von Lehrlingen werden. In Aschersleben trifft sie Stephan Ausborn und verliebt sich. Stephan jedoch sagt ihr, für die Zeit nach seinem Abschluss habe er andere Pläne, denn als Berufspädagoge in der DDR zu arbeiten. Zwanzig Jahre später schmunzelt sie, über diese Art von Plänen konnte man damals nicht überall sprechen. Erst auf einem Spaziergang im Freien fühlt Stephan sich unbeobachtet genug, ihr seine Pläne näherzubringen. Abhauen will er, in den Westen, nicht ausreisen, richtig abhauen. Er will nicht jahrelang auf die Genehmigung eines Ausreiseantrages warten und in der Zwischenzeit alle erdenklichen Schikanen über sich ergehen lassen. Christiane Schröder ist verliebt, für sie steht sofort fest: Ich komme mit. Sie muss damals an eine Familiengeschichte denken, an die Geschichte ihrer Großmutter. Die habe ihr sehr viel erzählt, viel von ihrer Kindheit im Hunsrück. Aus Liebe hatte es sie 1936 in den Norden, nach Hagenow in Mecklenburg, verschlagen. Als dann ihr Vater, Christianes Urgroßvater, gestorben war, durfte sie nicht zur Beerdigung in die Bundesrepublik fahren. Ungeheuer gelitten habe die Großmutter darunter. Diese Geschichte hat sie nicht losgelassen.
Christianes Vater erinnert sich, sein Schwiegersohn in spe habe ihn schon bald in einem Vieraugen-Gespräch in die Pläne des Paares eingeweiht. Zunächst heißt es, die beiden wollten versuchen, im Harz die Grenze zu überwinden. »Das hat meine Frau und mich hochgradig beunruhigt«, erzählt er, »das habe ich ihm auch klipp und klar gesagt, dass das geradezu abenteuerlich ist und tödlich enden kann!« Auch seine Frau Helga erinnert sich, »das war kein gutes Gefühl«, sagt sie, »weil ich ja wusste, wenn die beiden gehen, dann haben wir unsere Tochter verloren.« Die Eltern können aber verstehen, dass die Tochter raus will aus der DDR.
Jürgen Schröder erinnert sich an die Situation im Jahr 1987. Damals erlebt er in einem privaten und vertraulichen Rahmen einen nichtöffentlichen Vortrag eines Professors der Akademie der Wissenschaften über den technischen Entwicklungsstand in der DDR, einen Vortrag, der niederschmetternd gewesen sei und der einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlässt. »Der sagte, wenn wir keine Kinder hätten, dann könnten wir im Grunde genommen unsere Bücher schließen und uns dem Suff ergeben, denn jedwede Entwicklung in den Forschungs- und Entwicklungsbereichen wird oben stranguliert. Die Mikroelektronik ist ein einziger Flopp, und unsere großen Leistungen im Schwermaschinenbau werden von den Japanern so beurteilt, dass sie zwar wirklich schwere Maschinen seien, für den Weltmarkt aber nicht innovativ genug. Was Carl Zeiss Jena angeht, unser Aushängeschild der DDR, da seien die Japaner sehr, sehr viel weiter als wir, und auf den Leipziger Messen würden die Geschäftsverträge mit DDR-Firmen rückläufig sein, extrem rückläufig.« So steht es damals natürlich nicht in den Zeitungen. Aber dass das Land wirtschaftlich am Rande des Niederganges steht, das ist ab Herbst 1987 für jeden spürbar.
Helga Schröder arbeitet damals als Verkäuferin in einer Fleischerei. Es habe Kunden gegeben, die haben im Jahr vielleicht einmal Rouladen abgekriegt, die haben sich schon morgens um fünf Uhr, meist vergeblich, angestellt, um wenigstens einmal ein Stück Filet zu ergattern. Andere Kunden, erinnert sie sich, die haben zwischendurch immer ihr Päckchen Fleisch herausgereicht bekommen. Eine Hand wäscht die andere, »ohne Beziehungen«, sagt sie, »lief da gar nichts«. Extrem sei das gewesen. Die Tochter Christiane meint, als Jugendliche sei die schlechte Versorgungslage kein so großes Thema gewesen. Wenn man Anfang 20 ist, interessiert es einen nicht so sehr, ob es Bananen oder Apfelsinen zu kaufen gibt, vielmehr sei es darum gegangen, schick auszusehen, auszugehen, etwas zu erleben, in die Welt zu reisen, nicht nur in die sozialistische Welt.
Christiane Schröder kellnert damals viel, von dem üppigen Trinkgeld