Grenzenlos im Norden. Siv Stippekohl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Siv Stippekohl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711449509
Скачать книгу
dann kommt der 5. Oktober 1989, endlich die ersehnte Ausreise, der endgültige Abschied der Familie auf dem Schweriner Hauptbahnhof. Es ist der 46. Geburtstag von Jürgen Schröder, zwei Tage vor dem 40. Jahrestag der DDR und rund vier Wochen vor der ungeahnten Öffnung der Grenze. Und da ist dieses Bild im Kopf von Jürgen Schröder, wie seine Frau so lange wie möglich versucht, die Hand ihrer Tochter festzuhalten. Das Ehepaar erfährt bald, wenngleich auch nur über Umwege, dass die Tochter im Aufnahmelager in Gießen angekommen und nach dem Einbürgerungsverfahren mit ihrem Mann nach Hamburg weitergezogen ist. Die neue Adresse der Tochter: Hamburg-Harburg. Später erfahren sie, dass die Vermieterin der kleinen Wohnung in Harburg den beiden Ex-DDR-Bürgern bei der Besichtigung Verblüffendes eröffnete. »Also«, sagte diese Frau Bruhns, »wenn Sie aus Mecklenburg kommen, dann ist Ihnen die Wohnung fast sicher, und wenn sie dann auch noch aus Schwerin sind, dann ist sie Ihnen ganz sicher.« Christiane und Stephan Ausborn bekommen die Wohnung. Diesen Umstand verdanken sie ausgerechnet ihrer DDR-Herkunft oder vielmehr der Tatsache, dass der geliebte Großvater der Vermieterin einst Bäcker in Schwerin war.

      Das junge Ehepaar beginnt im Oktober 1989, sich in Hamburg ein neues Leben aufzubauen. Im rund 100 Kilometer entfernten Schwerin gehen Jürgen und Helga Schröder auf die Straße und demonstrieren für Veränderung. Als am 9. November Politbüromitglied Günter Schabowski in jener berühmten Pressekonferenz, selbst verunsichert, verkündet, ab sofort können Bürger und Bürgerinnen der DDR ausreisen, gibt es für das Ehepaar Schröder nur ein Ziel: Hamburg-Harburg. Gigantisch sei der Ansturm auf die Volkspolizeikreisämter gewesen, erinnert sich Jürgen Schröder, jeder will den Visumstempel für die Ausreise in seinen Pass. Am 12. November setzt er sich mit seiner Frau um 5 Uhr morgens ins Auto, ihr Sohn hat sich bereits einen Tag früher mit Freunden auf den Weg in den Westen gemacht. »Was für ein Gefühl! Zum ersten Mal konnte man ab der Autobahnabfahrt Wittenburg einfach weiterfahren«, erinnert er sich. Ein bedrückendes Gefühl sei es jedoch gewesen, die Grenzübergangsstelle Zarrentin auf der Transitautobahn erstmals zu sehen. »Was für eine Anlage, was für ein Aufwand, was für ein Misstrauen gegen alle, die sie passierten«, meint er. Nach der Abfertigung nähern die Schröders sich dem westdeutschen Grenzübergang Gudow. »Der war viel bescheidener«, fügt er hinzu. Die DDR-Bürger werden einfach freundlich durchgewunken! Welche Überraschung – und dann haben da Hunderte gestanden an der Autobahn und haben gewunken und jeden Trabbi, jedes Auto begrüßt.

      Je näher die Schröders Hamburg kommen, desto banger wird ihnen, der Verkehr wird immer dichter, und sie wissen, irgendwann kommt Hamburg, und Hamburg ist groß. Wie um alles in der Welt sollen sie ohne Stadtplan, ohne Orientierung die Wohnung der Tochter in Hamburg-Harburg finden. Wo liegt Harburg überhaupt? An einer Tankstelle lassen sie sich den Weg beschreiben, verpassen aber die Ausfahrt und kommen an das Maschener Autobahnkreuz, das Horster Dreieck. Sie haben Hamburg schon längst hinter sich gelassen, als sie bei Tötensen erneut Hilfe an einer Tankstelle finden. Ein freundlicher Autofahrer fährt voran und zeigt ihnen den Weg zurück nach Harburg. Was für ein Gefühl das war, vor der Tür der Wohnung von Christiane und Stephan zu stehen? Jürgen Schröder kann das auch gut zwanzig Jahre später nicht beschreiben. Doch niemand öffnet, als er damals an der Wohnungstür klingelt. Eine Nachbarin erzählt, der Schwiegersohn sei bei der Arbeit und die Tochter habe am Vortag Besuch aus der DDR bekommen, von ihrem Bruder. Die beiden seien nach Altona zum Fischmarkt gefahren.

      Die Familie ist an diesem 12. November 1989 also komplett im Westen, nur dass die Eltern in Harburg stehen und die beiden Kinder irgendwo auf diesem Fischmarkt. Es hilft nichts, die Schröders setzen sich wieder ins Auto, lassen sich den Weg nach Altona erklären und schlagen sich durch. Sie ahnen allerdings nicht, wie viele Menschen an diesem Sonntag den Hamburger Fischmarkt besuchen. Am ersten Wochenende nach der Grenzöffnung ist im Hamburger Hafen rund um die Fischauktionshalle der Teufel los. Jürgen Schröder geht beherzt zu einem Peterwagen der Hamburger Polizei, erzählt die Geschichte seiner Odyssee von Schwerin über die deutsch-deutsche Grenze über Tötensen und Harburg bis zum Fischmarkt und bittet die Polizisten, seine Kinder per Lautsprecher auszurufen. Das ist gegen die Vorschrift, wie könnte es auch anders sein. Augenzwinkernd geben die Beamten den Tipp, es im Fischmarktbüro zu versuchen. Einer der Polizisten begleitet die Schröders in das Büro und legt ein gutes Wort für sie ein. Tatsächlich klappt es, die Kinder werden ausgerufen: »Christiane Ausborn und Axel Schröder werden wegen einer dringenden Familienangelegenheit in das Fischmarktbüro gebeten.«

      Keine drei Minuten habe es gedauert, erinnert sich Jürgen Schröder. Seine Tochter erzählt, wie sie mit ihrem Bruder über den Fischmarkt geschlendert ist: »Wir haben uns satt gesehen an den vielen Dingen, an dem Obst, an den Wagen mit Fischbrötchen, und dann kommt plötzlich aus dem Lautsprecher dieser Aufruf und schlagartig kriegt man weiche Knie, einem rutscht das Herz sonst wohin, weil man ja denkt, es muss irgendetwas ganz Schlimmes passiert sein. Wir haben alles stehen und liegen lassen, haben die Beine in die Hand genommen und sind gerannt. Wirklich gerannt!« Jürgen Schröder sieht es noch heute vor sich: »Die Tür ging auf, meine Tochter sah uns, sie sah ihre Mutter und schrie ein langgezogenes: Muttiiiiii! Dann lagen sich die beiden in den Armen ... Es war unbeschreiblich. Ich erinnere auch, wie plötzlich Ruhe in diesem Fischmarktbüro herrschte, wo es sonst ja recht lebhaft zugeht, und es waren dort Mitarbeiter des Fischmarktbüros, die sich die Tränen wischten. Es war wirklich so! Wir hatten uns wieder. Das war unglaublich!« Keiner habe sich seiner Tränen geschämt, setzt Jürgen Schröder noch hinzu, und seine Tochter ergänzt: »Da standen unsere Eltern vor uns, das war irre! Das kann man gar nicht beschreiben, das war ein ganz, ganz großes Gefühl.«

      »Wir konnten wieder hin, aber wir hatten nicht das Gefühl, dass wir unsere Heimat wiederbekamen«

      Gerd und Marielie Seilkopf,

      der Bau der Mauer 1961 und eine Flucht im letzten Augenblick

      Das beschauliche Städtchen Aulendorf liegt im Schwäbischen, es ist bei weitem nicht so gut bekannt wie das benachbarte »Spieleparadies« Ravensburg. In Aulendorf sind knapp 10 000 Menschen zu Hause, es lebt sich gut hier, der Bodensee ist nicht einmal eine Autostunde entfernt, an Schönwettertagen geben die gut erkennbaren Alpen dieser Gegend etwas Malerisches. Hier in Aulendorf ist der Osten Deutschlands weit weg, zumindest viel weiter weg als Österreich und die Schweiz. Vom Bau der Mauer hat man hier im August 1961 genauso wenig Notiz genommen wie von ihrem Ende knapp 28 Jahre darauf. Von der Diktatur im Arbeiter-und-Bauern-Staat wissen die Leute hier bestenfalls aus den Geschichtsbüchern. Hier also leben Marie-Elisabeth und Gerd Seilkopf, im Ländle haben sie sich ein Häuschen gebaut. Von ihrer Geschichte wissen in Aulendorf nur gute Freunde und Verwandte des Paares.

      Gerd Seilkopf ist promovierter Tierarzt. Mitte der 1960er Jahre bewarb er sich beim Staatlichen Tierärztlichen Untersuchungsamt des Landes Baden-Württemberg in Aulendorf. Dieses Institut wurde 1957 eröffnet, es erwarb sich schnell einen ausgezeichneten Ruf weit über die Grenzen Baden-Württembergs hinaus. Gerd Seilkopfs Bewerbung stieß damals auf Wohlwollen, denn am Institut arbeiteten bereits viele Wissenschaftler aus dem Osten Deutschlands, sie alle waren »Republikflüchtige«. Er fand hier also Menschen, die eine ähnliche Geschichte hatten wie er und seine Frau. Dies ist sie:

      Marie-Elisabeth Walter wurde am 1. Mai 1926 in Schwerin geboren, wohlbehütet in ein harmonisches Familienleben hinein, erinnert sie sich. Der Großvater ist Pastor, der Vater Religionslehrer. Marielie, wie sie damals schon gerufen wird, ist die jüngste von drei Töchtern in der Familie. Mecklenburg ist ihre Heimat: die Seen, die Wälder, die Äcker, die nahe Ostsee. Die Familie ist weit verzweigt, viele Onkel und Tanten leben damals in Mecklenburg, seit 1952 gehört der Landstrich zum Bezirk Schwerin, andere Teile zum Bezirk Rostock; im wiedervereinten Deutschland, in der neuen Bundesrepublik, ist aus dieser Gegend der Landkreis Nordwestmecklenburg geworden. Damals, kurz nach dem Krieg, geht die junge Marielie nach Rostock, um sich als Krankengymnastin ausbilden zu lassen. Ab 1948 arbeitet sie in Greifswald. Als einer der Professoren das Angebot bekommt, an die Berliner Charité zu wechseln, fragt er die junge Marie-Elisabeth, ob sie mitwolle. Sie überlegt nicht lange und zieht 1950 in die geteilte Stadt, um in der Krankengymnastik der Chirurgie an der renommierten Charité in Berlin-Mitte, damals im Ostteil der Stadt, zu arbeiten.

      Gerd Seilkopf kam am 31. März 1933 in Bernburg als eines von insgesamt sechs Geschwistern zur Welt, zu fünf Jungen gesellte sich ein Mädchen.