Hingegen werden jene Oppositionsgruppen, die der Regierung gefährlich werden können, in Autokratien oft ausgegrenzt oder verfolgt. Autokraten können der Opposition so zugleich die Grenzen dessen aufzeigen, was sie noch zu dulden bereit sind. Dies kann zum Ausschluss von Parteien und Personen sowie zur regelrechten Tabuisierung bestimmter Themen bei Wahlen führen und einen Anpassungsdruck auf diejenigen Oppositionsparteien ausüben, die in dem engen legalen institutionellen Rahmen agieren wollen. Sofern Oppositionelle solche „roten Linien“ überschreiten, werden sie dann verfolgt, eingeschüchtert oder auch nur mittels bürokratischer Auflagen gehindert, für ihre politischen Ansichten zu werben. Die geringe Sichtbarkeit der Opposition kontrastiert dabei für gewöhnlich stark mit der Allgegenwart der Amtsinhaber in der Öffentlichkeit und in den von ihnen kontrollierten Medien.
Oppositionsgruppen müssen sich daher stets entscheiden, ob sie sich auf einen unfairen Wahlwettbewerb einlassen wollen, der ihnen ein beschränktes Maß an politischen Betätigungsmöglichkeiten erlaubt, oder ob sie den Wahlen fernbleiben sollen, um diesen keine Legitimation zu verleihen. Oft sind sich die Oppositionsgruppen nicht einig, zumal, wenn die Regierung sie getreu dem Prinzip „Teile und herrsche“ (divide et impera) gegeneinander ausspielt. Einige Parteien boykottieren dann die Wahlen, andere nehmen daran teil. Mitunter kommt es aber zu einem allgemeinen Wahlboykott der Opposition – so geschehen etwa bei den Wahlen in Venezuela 2017 oder, um ein weniger bekanntes Beispiel zu nennen, in Dschibuti 2018. Aus Sicht der Machthaber wiederum ergibt sich bei unfairen Wahlen die Möglichkeit, die Opposition als schwach darzustellen oder diese gar zu diskreditieren. Der Nachweis einer angeblichen Bedeutungslosigkeit der Opposition ist Teil der Wahlstrategie von Autokraten. Umgekehrt kann ein Wahlboykott die Opposition auch in die Bedeutungslosigkeit führen, weil bar einer parlamentarischen Repräsentation die Möglichkeiten, im legal-institutionellen Rahmen (ein wenig) Oppositionspolitik zu betreiben, stark eingeschränkt sind.
Das übergreifende Merkmal von Wahlen in Autokratien besteht letztlich darin, dass sie in Funktion der Sicherung und eben nicht der Infragestellung der Herrschaft stehen. Aus Sicht der Herrschenden steht die politische Macht nicht wirklich zur Disposition. Mitunter wird dies auch gar nicht erwartet, etwa, wenn der gewählte Präsident als „Vater der Nation“ wahrgenommen wird und in Teilen der Bevölkerung eine untertänig geprägte und fürsorgeorientierte politische Kultur vorherrscht. Eine solche glaubte Mikit Merzlou etwa noch 2019 in Belarus zu erkennen29, bevor 2020 dann dort jedoch Massenproteste gegen Wahlbetrug ausbrachen. In einigen Ländern werden zudem von vornherein nur Mandate für nachgeordnete politische Ämter vergeben, während die eigentlichen Machtzentren außerhalb der gewählten Institutionen verbleiben. Selbst dort, wo gewählte nationale Parlamente bestehen, kann deren politische Macht, wie etwa noch vor Kurzem in der Monarchie Marokkos, gering sein.
Gelegentlich behalten sich Autokratien auch vor, einen Teil der Mandate im Parlament ohne Wahlen zu besetzen, so beispielsweise in Myanmar. In Thailand wiederum geht zwar das 500-köpfige Unterhaus inzwischen wieder aus allgemeinen Wahlen hervor, doch wurden die 250 Senatoren der politisch bedeutsamen zweiten Kammer des Parlaments durch einen „Nationalen Rat zur Erhaltung des Friedens“ und damit durch das Militär und ihre Verbündeten bestellt. Streng genommen handelt es sich dort um ein Militärregime hinter einer demokratischen Fassade.30 Vor allem aber nutzen Autokraten vielfältige Praktiken der Wahlmanipulation, um sicherzustellen, dass ihre politische Macht durch Mehrparteienwahlen nicht ernsthaft gefährdet wird.31 Dabei gilt es nicht nur, den Wahltag in den Blick zu nehmen, sondern den gesamten Wahlprozess und den übergreifenden Wahlkontext.
Trotz aller Kontrolle bergen Mehrparteienwahlen dennoch ein gewisses „Risiko“ für Autokraten, da der damit verbundene Wahlwettbewerb doch in beschränktem Maße politische Räume für Dissens eröffnet und eine Eigendynamik auslösen kann. Bruchstellen ergeben sich beispielsweise dann, wenn die autoritären Machthaber ihren Rückhalt in der Bevölkerung überschätzen oder ihre Fähigkeit, den Wahlprozess hinreichend zu kontrollieren. Bestenfalls können oppositionelle Gruppen – zumal dann, wenn sie vereint auftreten – die Wahlen nutzen, um sich als Regimealternative anzubieten. Gelegentlich gelingt es der Opposition, auch unter autoritären Bedingungen die Wahlen zu gewinnen – und die Amtsinhaber akzeptieren auf innergesellschaftlichen oder außenpolitischen Druck hin sogar das Wahlergebnis. In der jüngeren Vergangenheit gibt es einige Beispiele für solche „öffnenden Wahlen“ (opening elections), etwa in Lateinamerika in den 1980er Jahren.32 Besonders spektakulär waren in Chile das Verfassungsreferendum 1988 gegen eine weitere Amtsperiode von Augusto Pinochet sowie die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 1989, aus denen die Opposition als Sieger hervorging. In Afrika ließen sich die Wahlen des Jahres 1991 in Benin, Kap Verde und Sambia nennen. Ein jüngeres Beispiel ist Gambia, wo der langjährige Amtsinhaber Yahya Jammeh die Präsidentschaftswahl des Jahrs 2016 verlor. Auf nationalen und internationalen Druck, auch seitens der Economic Community of West African States (ECOWAS), trat er schließlich zurück und ging ins Exil nach Äquatorialguinea.
Meist dominieren Autokraten jedoch den Wahlprozess und greifen gegebenenfalls auf Wahlbetrug zurück, um eine Wahlniederlage zu vermeiden oder sich eine eindrucksvolle Stimmenmehrheit zu schaffen. Allzu unverblümter Wahlbetrug kann jedoch Anlass für Massenproteste sein. Über solche Proteste stürzten beispielsweise die Regierungen in Georgien (2003), der Ukraine (2004) und Kirgistan (2005). Auch in der DDR verlieh der offenkundige Wahlbetrug bei den Kommunalwahlen des Jahrs 1989 der Protestbewegung Auftrieb. Oft bleiben aber selbst Massenproteste erfolglos, wie etwa im Iran 2009, in Russland 2012 oder in Kasachstan 2019. In Belarus wurden Wahlproteste bereits mehrfach gewaltsam unterdrückt, besonders brutal nach den Präsidentschaftswahlen von 2006 und 2010. 33 So lange anhaltend wie 2020 waren die Proteste aber noch nie.
2 Als Autokratien werden in der Politikwissenschaft alle nicht demokratischen Systeme verstanden, also sowohl autoritäre als auch totalitäre politische Systeme.
3 Zu den Wahlen in verschiedenen Weltregionen im 20. Jahrhundert siehe: Nohlen 1993 und 2005, Nohlen/Krennerich/Thibaut 1999, Nohlen/Grotz/Hartmann 2003, Nohlen/Stöver 2010.
4 Vgl. die entsprechenden Beiträge von Richard Rose, Michael Bratton, Mark P. Jones und Stephen White zu Founding Elections in verschiedenen Weltregionen in: Rose 2000: 104 – 116.
5 Im Zusammenhang mit der dritten Demokratisierungswelle bezeichnet der Begriff „Transition“ den Übergang von einem autoritären Regime zu einer politischen Demokratie. Er war begriffsbildend für die politikwissenschaftliche „Transitionsforschung“, die sich mit den Ursachen, dem Verlauf und den Bestandsaussichten demokratischer Übergänge zunächst in Südeuropa und Lateinamerika beschäftigte. Der Begriff der „Transformation“ ist umfassender, bezieht sich allgemein auf Systemwandel und gewann im Kontext der tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche nach dem Niedergang der realsozialistischen Regime vor allem in Bezug auf Ost(mittel)europa an Bedeutung.
6 So der Titel eines älteren Beitrags des Autors zu Wahlen in Lateinamerika: Krennerich 1999.
7 Neben den demokratischen Frühentwicklern Botsuana und Mauritius zählen dazu etwa Ghana, Kap Verde, Namibia, Säo Tomé und Principe, Südafrika sowie bis 2019 auch Benin und Senegal.