Nicht überall, wo in den vergangenen Jahrzehnten Mehrparteienwahlen stattfanden, genügten die Wahlen jedoch demokratischen Standards und konnten autoritäre Strukturen überwunden werden. Etlichen Staaten, die im ausgehenden 20. Jahrhundert politische Öffnungs- oder Demokratisierungsprozesse durchlaufen hatten, fiel es anfänglich oder dauerhaft schwer, ihre autoritäre Erblast abzuschütteln und die Funktionsprobleme zu meistern, welche die Bedeutung demokratischer Institutionen und Verfahren einschränkten. Während sich in den meisten (re-)demokratisierten Staaten Lateinamerikas und später auch in Ost(mittel)europa Wahlen erneut oder erstmals zu einer „demokratischen Routine“6 entwickelten, kam es in Afrika zwar flächendeckend zu einer Institutionalisierung von Mehrparteienwahlen, aber nur in einem Teil der Länder entstanden dort, schon gar stabile, Demokratien.7 Ähnliches gilt für Süd-, Südost- und Ostasien.8 Oft konnte die Macht der Amtsinhaber nicht einer wirksamen demokratischen und rechtsstaatlichen Kontrolle unterworfen werden. Auch geriet der Demokratisierungstrend in den 2000er Jahren weltweit ins Stocken. Vielerorts hatten autoritäre Regime Bestand, oder sie reetablierten sich nach einer Zeit des vorübergehenden Aufbruchs. Das Wesen und die Strategien autoritärer Herrschaft hatten sich jedoch geändert.
Vermehrt hatten sich „Wahlautokratien“ herausgebildet, die demokratische Prozesse imitierten. Ihr Kennzeichen besteht darin, dass das allgemeine Wahlrecht gewährt und ein begrenzter politischer Wahlwettbewerb zugelassen wird. Doch sind die Wahlen nicht demokratisch. Der politische Wettbewerb ist zugunsten der Amtsinhaber mehr oder minder stark verzerrt, und autokratische Herrschaftsweisen schlagen auf den Wahlprozess durch. Selbst wenn populäre Autokraten bei Wahlen beachtliche Unterstützung mobilisieren und es nicht zu groß angelegtem Betrug am Wahltag kommt, lässt eine Gesamtschau der Wahlprozesse und des übergeordneten Wahlkontexts es meist nicht zu, die Wahlen als demokratisch zu bezeichnen. Mit diesem Manko musste etwa der inzwischen verstorbene Präsident Venezuelas Hugo Chávez leben, der nach seiner dritten Wiederwahl im Jahr 2012 fragte, wie Kommentatoren in Europa immer noch von einer Diktatur in seinem Land sprechen könnten. Tatsächlich hatten der linkspopulistische Autokrat und die ihn unterstützenden Wahlbewegungen zwischen 1998 und 2012 rund ein Dutzend Präsidentschafts- und Parlamentswahlen sowie Volksabstimmungen gewonnen. Doch waren der willkürliche, autoritäre Herrschaftsstil und die gesellschaftspolitische Polarisierung einem demokratischen Wahlprozess abträglich.
Gewiss: Je stärker Wahlen in „elektoralen Autokratien“ einen Wettbewerb zulassen und auf offenen Wahlbetrug verzichten, umso schwieriger ist es, demokratische und nicht demokratische Wahlen zu unterscheiden. Der Lackmustest ist, inwieweit die Machthaber bereit sind, einen fairen Wahlprozess und einen freien Wahlgang zuzulassen, und willens, ihnen nicht genehme Wahlergebnisse oder gar eine Wahlniederlage anzuerkennen. Ermöglichen die Wahlen in der Türkei beispielsweise einen demokratischen Wahlwettbewerb? Oder sind sie eher Ausdruck der Machterhaltungsstrategie eines Autokraten? Für Ersteres spricht vorderhand der Wahlsieg der Opposition bei den Kommunalwahlen des Jahrs 2019 in Istanbul, den die Regierung aber erst nach einer Wahlwiederholung und angesichts eines überdeutlichen Wahlsiegs der Opposition nolens volens anerkannte. Für Letzteres stehen die erfolgreichen Versuche des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, die nationalen Wahlprozesse der vergangenen Jahre zu seinen Gunsten auch mit undemokratischen Mitteln zu beeinflussen.
In weniger kompetitiven Autokratien, in denen trotz Mehrparteienwahlen die Opposition kaum existent ist, ist die Einordnung der Wahlen hingegen recht leicht. Als Beispiele können Belarus und Aserbaidschan gelten oder die zentralasiatischen Autokratien, bei denen allenfalls in Ansätzen ein politischer Wettbewerb inszeniert wird. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Ausrufung unabhängiger Republiken gewannen die Langzeitpräsidenten von Kasachstan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan ihre Wahlen nicht selten mit Mehrheiten über 90 % der Stimmen. Konkurrierende Bewerber um das Präsidentenamt sind dort bis heute reine „Zählkandidaten“, und die wenigen Oppositionsparteien im Parlament imitieren mehr parlamentarischen Pluralismus, als dass sie Oppositionsarbeit betreiben. Ähnliches gilt für etliche Autokratien anderer Weltregionen. Nehmen wir als Beispiel das kleine, wenig beachtete Äquatorialguinea: Trotz der Zulassung von Mehrparteienwahlen im Jahr 1991 regierte der dortige autokratische Präsident Teodoro Obiang Nguema Mbasogo seit 1979 mit uneingeschränkter Regierungsmehrheit im Parlament und ist damit der weltweit am längsten amtierende Staats- und Regierungschef. Wahlen gewinnen er und seine Partei ebenfalls stets mit über 90 % der Stimmen.
Funktionen demokratischer Wahlen
Als Kern der liberalen Demokratie werden Wahlen verschiedene Funktionen zugeschrieben, die traditionell anhand etablierter Demokratien in Westeuropa und Nordamerika entwickelt worden sind.9 Die Erfahrungen mit demokratischen Wahlen in anderen Weltregionen blieben – mit wenigen Ausnahmen – hingegen lange Zeit unterbelichtet. Erst im Zuge der Demokratisierungswelle(n) des ausgehenden 20. Jahrhunderts erlangen die dortigen Wahlen wieder verstärkt Aufmerksamkeit. Nach den oft nur kurzen Erfahrungen mit Mehrparteienwahlen im Rahmen der Entkolonialisierung in Afrika und Asien sowie der Aussetzung kompetitiver Wahlen in vielen südamerikanischen Diktaturen wurde nunmehr (wieder) die Frage aufgeworfen, welche Funktionen demokratische Wahlen außerhalb Westeuropas und Nordamerikas überhaupt einnehmen (können). Um derartige Fragen beantworten zu können, war und ist jedoch ein allgemeines Verständnis demokratischer Wahlfunktionen vonnöten.
In diesem Sinne sind die ursprünglich auf westliche Demokratien bezogenen Funktionskataloge nicht einfach ad acta zu legen. Sie dienen als wichtige Orientierungspunkte, von denen ausgehend – aber unter Berücksichtigung der je besonderen politischen, soziökonomischen und kulturellen Bedingungen – sich Funktionen kompetitiver Wahlen auch in anderen Weltregionen sinnvoll betrachten lassen. Dies ist nötig, um Wahlen im „globalen Süden“ an die vergleichende Wahlforschung anzuschließen. So zeigen beispielsweise Umfragen des Afrobarometers, dass die „Nachfrage“ nach einer liberalen Demokratie in Afrika durchaus groß ist, selbst wenn die „Angebotsseite“ zu wünschen übrig lässt.10 Zugleich sind Wahlgänge in Afrika nicht nur, wie reichlich verkürzt behauptet wurde, „ethnische Zensus“, bei denen die Wahlberechtigten nach ethnischer Zugehörigkeit ihre Wahlstimme abgeben, „typischerweise“ begleitet von Stimmenkauf und Gewalt.11 Auch in den Staaten Afrikas und anderer Regionen des globalen Südens gibt es ernsthafte Bestrebungen, demokratische Wahlen durchzuführen, die sich – bei allen Besonderheiten – an denselben Grundfunktionen orientieren wie Wahlen in etablierten Demokratien. Von grundsätzlicher Bedeutung sind dabei vier allgemeine Funktionskomplexe:
1) Funktionen, die sich auf die Übertragung von politischer Macht und die Zuweisung von Herrschafts- und Oppositionspositionen beziehen: Einem liberal-pluralistischen Demokratieverständnis zufolge vergibt der demos in demokratischen Wahlen einen verfassungsmäßig formulierten „Herrschaftsauftrag auf Zeit“, so ein geflügeltes Wort von Theodor Heuss, und überträgt damit zeitlich begrenzt politische Macht an die künftigen Herrschaftsträger. Demokratische Wahlen üben also die Funktion aus, politische Macht zu übertragen, und statten zu diesem Zweck – für gewöhnlich in Parteien oder Wählerbewegungen organisierte – Personen in Form von politischen Mandaten mit Herrschaftsbefugnissen aus. Dies gilt auch dann, wenn die in diesem Zusammenhang vielfach betonte Regierungsbildungsfunktion nur vermittelt zutage tritt.12 Bei demokratischen Wahlen wird jedoch nicht nur ein Herrschaftsauftrag vergeben, sondern auch das Parlament gewählt und die parlamentarische Opposition eingesetzt, welcher, normativ betrachtet, insbesondere die Aufgabe zukommt,