Inwieweit Wahlen demokratische Funktionen erfüllen, hängt somit maßgeblich davon ab, inwieweit sich in jungen Demokratien – oft unter schwierigen Bedingungen – demokratische Institutionen, Verfahren, Handlungsweisen und Einstellungen herausbilden und festigen und inwieweit auch in etablierten Demokratien die Wahlen dazu beitragen, verantwortliche Regierungen hervorzubringen und demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten in Politik und Gesellschaft zu verstetigen und zu vertiefen. Die Herausbildung einer demokratischen und rechtsstaatlichen Kultur ist für gewöhnlich ein langwieriger Prozess, zumal in gesellschaftlich polarisierten und ethnisch fragmentierten Gesellschaften. In Ländern, in denen der Wahlsieg nicht nur den Zugang zu politischen Ämtern bedeutet, sondern zugleich mit der Vereinnahmung des Staatsapparats, mit dem Zugriff auf die ökonomischen Ressourcen des Lands und mit einer gesellschaftlichen Vormachtstellung einhergeht, steht bei Wahlen viel auf dem Spiel, sind die Verluste bei einer Wahlniederlage hoch. Dort werden Mehrparteienwahlen rasch zu einem Nullsummenspiel auf Kosten gesellschaftlicher und politischer Minderheiten. Wahlen können zwar auch unter solch schwierigen sozioökonomischen und politisch-kulturellen Bedingungen dazu beitragen, Macht- und Herrschaftskonflikte friedlich auszutragen; sie tun dies aber nicht zwangsläufig. Mitunter sind sie auch „new battlegrounds“19 oder verstärken gar Machtkonflikte. Die häufig benannte befriedende Funktion kompetitiver Wahlen ist daher stark kontextabhängig.
Auch müssen Demokratien den „Stresstest“ bestehen, dem sie aktuell durch das Erstarken von Populisten ausgesetzt sind. Vielerorts ist ein „konfrontativer Typus der Mehrheitsdemokratie“20 entstanden, in der – unter Verweis auf den „Volkswillen“ oder die Wählermehrheit – die Anliegen der politischen Minderheiten brüsk beiseitegeschoben werden. Dabei haben Negativwerbung und Diffamierungskampagnen ebenso wie Desinformationen und Fake News inzwischen wesentlichen Einfluss auf die Wahlentscheidung, selbst in gestandenen Demokratien. Offenkundig sind zudem die Handlungsspielräume demokratisch gewählter Regierungen meist viel kleiner als im Wahlkampf suggeriert wird. Das mussten die gewählten Linksregierungen in Griechenland während der dortigen Finanzkrise ebenso schmerzlich erfahren wie viele andere Staaten, die hoch verschuldet oder auf andere Art wirtschaftlich und politisch abhängig sind.
Funktionen nicht demokratischer Wahlen 21
¿para qué sirven las elecciones? (Wozu dienen Wahlen?) lautete der spanische Titel einer schon in die Jahre gekommenen Studie über Wahlen in nicht demokratischen Systemen.22 Wahlen sind selbst in Autokratien mehr als Dekoration. Autokraten binden Wahlen in ihre Herrschaftspraktiken ein und nutzen diese, um innen- und außenpolitische Legitimationsgewinne zu erzielen, um Unterstützergruppen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu kooptieren, um die Opposition zu teilen oder in die Schranken zu weisen. Indes: die Regierungsmacht bei Wahlen abzugeben, dazu waren und sind sie für gewöhnlich nicht bereit.
1) Legitimation durch Wahlen: Autokraten gründen zwar ihre innenpolitische Legitimation nicht allein auf Wahlen, sondern gerade auch auf andere Legitimationsquellen – etwa auf persönliches Charisma oder auf traditionelle oder religiöse Herrschaftsansprüche.23 Mitunter können sie sich auch als Hüter der nationalen Einheit und Sicherheit profilieren, besonders angesichts etwaiger separatistischer Bewegungen, terroristischer Bedrohungen oder einer weitverbreiteten Kriminalität. Oder sie gerieren sich als Garanten des Wohls der Nation, des wirtschaftlichen Fortschritts oder revolutionärer Errungenschaften. Dabei können sich Wahlen in solche Legitimationsstrategien einfügen. Sie bieten findigen Autokraten die Gelegenheit, ihren Führungsanspruch eindrucksvoll zu unterstreichen. Mittels Wahlen können diese die Bevölkerung für die eigenen politischen Ziele mobilisieren und ihren – tatsächlichen oder vermeintlichen – Rückhalt in der Wählerschaft allseits verdeutlichen. Die zahlreichen Wahlen unter Aljaksandr Lukaschenka in Belarus (vor 2020) und unter dem bereits erwähnten Hugo Chávez in Venezuela sind dafür gute Beispiele. Als Legitimation stiftend wird dabei nicht nur eine hohe Zustimmung zum Amtsinhaber, sondern auch eine hohe Wahlbeteiligung angesehen. Um die Bürgerinnen und Bürger an die Wahlurnen zu bringen, bedienen sich Autokraten dabei mitunter ausgewöhnlicher Maßnahmen – so auch in Russland bei den Präsidentschaftswahlen 2018: „Im sibirischen Krasnojarsk wird ein Auto verlost, im südrussischen Krasnodar ist es ein iPhone, und in Berdsk (Westsibirien) soll das beste Selfie eine Plakatwand schmücken. Teilnahmeberechtigt ist immer nur, wer zur Wahl geht.“24 Häufig werden Aufrufe zum Wahlboykott in Autokratien zu unterbinden versucht oder sie sind, wie etwa in Belarus oder Kambodscha, sogar ausdrücklich verboten. Ob mit der Durchführung von Wahlen auch ein außenpolitischer Legitimationsgewinn einhergeht, hängt wiederum davon ab, inwieweit die Wahlen international anerkannt werden. Während Wahlbeobachtungsmissionen unabhängiger internationaler Organisationen, sofern sie eingeladen werden, Wahlen in Autokratien regelmäßig ein schlechtes Zeugnis ausstellen, sind etliche Machthaber dazu übergegangen, Wahlbeobachtungsgruppen aus befreundeten Staaten einzuladen, die dann ein gefälliges Bild der Wahlen zeichnen. Für Aserbaidschan, Zimbabwe und Venezuela sind solche Praktiken beispielsweise gut belegt.25
2) Kooptation von Unterstützergruppen: Über ihre mögliche Legitimationsfunktion hinaus können die Wahlen auch in Kooptationsstrategien eingebunden sein, von denen Unterstützergruppen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nutznießen. Wahlen bieten den Amtsinhabern die Möglichkeit, durch entsprechende Wahlaussagen und Wahlversprechen den „Herrschaftspakt“ mit den sie unterstützenden militärischen, wirtschaftlichen, religiösen und/oder gesellschaftlichen Eliten zu bekräftigen. Darüber hinaus sorgen die politische Besetzung von Ämtern und ihre Austauschbarkeit bei oder nach Wahlen tendenziell für regimetreues Verhalten zumindest derjenigen Personen, die hiervon profitieren oder zu profitieren hoffen. Gerade in Ländern mit ausgeprägten klientelistischen Strukturen neigen viele Wahlberechtigte dazu, die Amtsinhaber zu unterstützen.26 Salopp ausgedrückt, möchten viele Menschen zu den Wahlsiegern gehören, zumal dann, wenn diese etwas zu verteilen haben. Solche Praktiken lassen sich zwar zur Genüge auch in Demokratien finden, sie sind aber gerade auch Teil autoritärer Machtsicherung. Zugleich bieten dortige Wahlen die Möglichkeit zu Re-Arrangements im autoritären Machtapparat, die ihrerseits zur Systemstabilisierung beitragen können. Mittels Wahlen können die jeweiligen Machthaber – anhand von Wahlkampfverhalten, Wahlteilnahme und Stimmenpräferenzen – die Wirksamkeit ihres Kontrollapparats überprüfen, Schwachpunkte in den eigenen Reihen aufdecken und zugleich das oppositionelle Spektrum ausleuchten.
3) Kooptation, Unterdrückung und Diskreditierung der Opposition: Kooptieren lassen sich bei Wahlen gegebenenfalls auch (gemäßigte) Teile der Opposition, indem sie etwa Parlamentsmandate erhalten und ihnen gewisse Organisations- und Handlungsmöglichkeiten eingeräumt werden. Geradezu institutionalisiert ist die Kooptation beispielsweise, wenn im Rahmen von Prämienwahlsystemen die Parlamentsmandate, ganz unabhängig vom konkreten Wahlergebnis, zwischen Mehrheits- und Minderheitspartei(en) nach einem festen Schlüssel verteilt werden, wie dies etwa während der Somoza-Diktatur in Nicaragua lange Zeit der Fall war.27 Der Kooptation dienen beispielsweise auch die neun Mandate (ohne Wahlkreis), die in Singapur der Präsident an