Rudimentäre Überbleibsel des Stadions sind vor Ort noch zu erkennen. Beispielsweise der Graswall der Gegengerade an der Hertzstraße, der wegen deren Ausbaus bereits früher reduziert wurde. An der Mauer dahinter sieht man noch die alten Reklamen: „Sparkasse Karlsruhe“. „Autohaus Badenia“. „Feierabend! …und jetzt ein Moninger.“
„Zum Moninger“, das ist der neugotische, burgartige und beeindruckende Bau der Brauerei: das ehemalige Vereinslokal des KFV, im Karlsruher Zentrum, Kaiserstraße 144 / Ecke Karlstraße noch erhalten. Sagenhafte Plastiken schmücken bis heute die Fassade, und eine imposante Lichtreklame wirbt für das Bier. Aber einkehren kann keiner mehr im „Moninger“: Dort befindet sich heute ein „T-Punkt“-Laden. Wie überhaupt die ganze Kaiserstraße vor allem eine Kettenshop-Landschaft darstellt. Deutsche Innenstädte sind inzwischen eben auswechselbar.
Aber noch einmal zurück zum früheren Stadion an der Hertzstraße vor der einstigen Telegraphenkaserne (dieser Hintergrund macht es einfach, Fotos von Heimspielen des KFV zu identifizieren). Heute sind dort Gebäude der Universität-West untergebracht. Was sich an dieser Stelle früher abspielte, zum Beispiel am Ostermontag 1912, dem 8. April, Anpfiff 15 Uhr 30, kann man nachlesen:
„Das Tagesgespräch der Sportsleute in ganz Süddeutschland war die Begegnung KFV gegen den Deutschen Meister Viktoria 89 Berlin (Anm.: 1:3). So brachten denn die Züge von nah und fern zahlreiche Sportanhänger. Der Zudrang nach dem Sportplatze an der verlängerten Moltkestraße war gewaltig. Die Wagen der Elektrischen waren überfüllt, Auto folgte auf Auto, Zuschauer in endloser Zahl pilgerten zum Spielplatz.“ („Karlsruher Tagblatt“)
6.000 Besucherinnen und Besucher wurden gezählt, neugierig darauf, ob der KFV das 6:1 vor wenigen Wochen in Berlin wiederholen könnte. In der Vorausschau hatte der KFV seine Spieler, die für die Nationalmannschaft und die süddeutsche Auswahl berufen worden waren, mit Sternchen markiert: Hollstein, Gros, Breunig, Bosch, Tscherter, Förderer, Fuchs und Hirsch.
Ein Bild aus alten KFV-Tagen: Zu seinem 50. Geburtstag 1927 schnürt Ivo Schricker (Bildmitte) noch einmal die Kickstiefel. Rechts von ihm stehen Julius Hirsch, dem er in der NS-Zeit helfen wird, Fritz Tscherter und Ernst Hollstein.
Heute liest man gegenüber dem einstigen Stadionareal am Gebäude Ecke Hertzstraße / Karlsruher Weg noch immer die Aufschrift einer Gaststätte: „Prinz Berthold“. Laut Karlsruher Adressbuch von 1912 war das unter der Anschrift Hardtstraße 123 die „Wirtschaft zum Prinzen Berthold“. Man darf annehmen, dass die Kämpen des KFV und ihre Anhänger oft dort eingekehrt sind. Eine Vereinswirtschaft also, wie sie vielerorts bestanden hat und wie es sie heute aufgrund der vereinseigenen Sportheime kaum mehr gibt. Aus der „Wirtschaft zum Prinzen Berthold“ wurde in unseren Tagen „Tong Moi“ und zuletzt „Sahmaran“. Als der Autor 2011 nachgeschaut hat, standen die Räumlichkeiten leer.
Und der Karlsruher FV spielt hier nicht mehr. Oder, um einen Martin-Scorcese-Filmtitel abzuwandeln: „KFV doesn’t live here anymore.“
KAPITEL 3
1909: „Und dann kam meine Entdeckung…“ \\\ Und Townley sagt: „Dieser Linksaußen spielt jetzt immer!“
Julius Hirsch wird 1902, er ist damals zehn Jahre alt, Mitglied des Karlsruher FV. Auf einem Mannschaftsbild sieht man ihn mit anderen Jungen, denn der Verein unterhält schon früh Jugendmannschaften und auch eine Altherren-Mannschaft. Wie alles anfing mit Julius „Juller“ Hirsch im Fußballsport, ist glücklicherweise exakt dokumentiert. Sein damals 16-jähriger Sohn Heinold hat dies am 6. November 1938 im „Hausaufsatz No. 4“ – dem letzten Aufsatz im Realgymnasium Goetheschule in Karlsruhe vor seinem Verweis aus rassischen Gründen – unter dem Titel „Meine Ahnen“ festgehalten. Erzählt hat ihm alles der Vater, und so darf man den Aufsatz auch als dessen Bericht (in der Ich-Form als Aussage von Julius Hirsch) wiedergeben:
„Ich verschrieb mich schon früh dem Fußballspiel. Auf dem ‚Engländerle’ (Anm.: also der ‚Engländerplatz’ in Karlsruhe) verbrachte ich den ersten Teil meiner Jugend, trotz Schlägen und Strafen, die ich für meine abends so ‚sauberen’ Hosen und Strümpfe bekam. Man stellte anfangs den noch kleinen Knirps auf Linksaußen (also gewissermaßen kalt), und daraus entwickelte sich später der Linksaußen oder Linksinnen Deutschlands. Die Schule wurde natürlich durch diesen ‚Sport’ (man sagte das damals verächtlich) auch nicht gefördert, doch mein ‚Einjähriges’ brachte ich gut hinter mich und sagte dann der Schule ade.
Um diese Zeit spielte ich auch schon lang in der KFV-Jugend. Und dann kam meine Entdeckung. Bei einem Spiel gegen Freiburg fehlte der damals etwas schon alten Mannschaft des KFV ein Linksaußen gerade für einen Sonntag. Man kann es sich denken, ich hatte schon ein bisschen Herzklopfen, als ich zum erstenmal unter lauter so berühmten Namen spielte, aber bald spielte ich wie sonst und schoss auch ein Tor. Nach dem Spiel sagte der damalige Trainer Townley: ‚Dieser Linksaußen spielt jetzt immer!’, und trotz der Einwendungen der ‚Alten’ verjüngte er dann langsam den KFV.“
„Die Engländer-Spieler“ nannten sich die 1904 fotografi erten Karlsruher Buben nach dem „engländerplatz“, dem ersten Karlsruher Fußballplatz. Er war ursprünglich ein Feuerwehr-Übungsplatz und diente 1933-45 als „Skagerrakplatz“ für aufmärsche der Sa. Der heutige Bolzplatz nahe dem KSC-Fanprojekt-haus wurde um 90 Grad gedreht. Julius Hirsch sieht man auf der historischen Aufnahme sitzend als Zweiten von rechts.
Der Jugendabteilung des KFV gehörte julius Hirsch 1906 an. Als 1. Schriftführer unterschrieb Rudolf Hirsch, der Brudervon julius.
Das „Engländerplätzle“, wie es in den 1890er Jahren ausgesehen haben soll, malte Egon Itta zum 60. Geburtstag von Fußballpionier Walther Bensemann.
In der „Illustrierten Sportzeitung“ vom 6. März 1909 wird Hirsch nach dem 4:0 des KFV gegen den Deutschen Ex-Meister FC Freiburg – der Spieler ist 17 Jahre alt – „ein anerkennendes Lob“ zuteil. Als Torschütze aufgeführt ist er erstmals beim 4:0 gegen Alemannia Karlsruhe im Mai 1909.
Ein legendäres Stürmer-Trio
Hirsch und sein jüdischer Glaubensgenosse Fuchs wuchsen, wie in Kapitel 2 geschildert, in einen Verein hinein, der damals deutschen Spitzenfußball präsentierte. Die Reputation des KFV ging über Deutschland hinaus, so in der Spielzeit 1905/06 nach dem 7:0 über Union Sportive Parisienne: „Keine einzige französische Mannschaft wäre imstande, den Karlsruher Fußballverein zu schlagen. (…) Sie spielen eben für ihre Mannschaft und versuchen nie, wie in Frankreich, persönliche Heldentaten zu vollbringen.“ („Les Sports“, Nr. 506)
Und obwohl der KFV im Juni 1906 Slavia Prag 3:4 unterlegen war, hielt der Berichterstatter der „Deutschen Sport-Zeitung“ fest: „Ich habe mit noch vielen anderen den Eindruck mitgenommen, dass an diesem Tage der Fußballsport in Süddeutschland seine höchsten Triumphe gefeiert hat.“ Weitere sollten folgen, und Hirsch sollte daran entscheidenden Anteil haben.
„Wenn der Hirsch die Hos’ verliert, dann gibt’s ein Tor!“, sollen die Karlsruher Buben über den 1,68 Meter kleinen, schnellen und schwarzhaarigen