Carl Hansen wirkte so altmodisch pfarrerhaft, dass Høyer einen Moment überlegt hatte, ob er ihn nicht mit ›Herr Pfarrer‹ anreden sollte, war jedoch zu dem Schluss gekommen, dass ›Herr Hansen‹ trotz allem angemessen war.
»Seelsorger ist wohl nicht das richtige Wort«, sagte Carl Hansen. »Wir sind der Auffassung, dass der Herr für unsere Seelen sorgt. Das ist nicht Sache der Menschen. Aber es stimmt, dass meine Brüder und Schwestern im Herrn sich mir hin und wieder anvertrauen, wenn sie Zweifeln und Anfechtungen ausgesetzt sind«, fügte er mit einem kleinen, selbstzufriedenen Lächeln hinzu.
Therkelsen sah zu Høyer hinüber. Hier also hatte Jens Olsen seine merkwürdige Sprache her.
»Sie könnten den Brief ja einmal lesen«, schlug Høyer vor. »Und sehen, ob er Ihnen etwas sagt.«
Er reichte den Brief Carl Hansen, der eine Brille aus der Brusttasche fischte und aufsetzte, bevor er mit kleinen murmelnden Mundbewegungen las. Er las den Brief zweimal, dann ließ er ihn sinken.
»Ach ja«, seufzte er. »Ja, das ist leider nur allzu klar.« Høyer sah ihn eindringlich an. »Was heißt das?«, fragte er.
Carl Hansen reichte ihm den Brief, lehnte sich ein wenig im Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen gegeneinander.
»Also, Jens Olsen ist zu mir gekommen ... ja, das muss einen Monat her sein. Vielleicht auch länger. Er hatte ein Problem.« Er machte eine kleine Pause. Dann fuhr er fort: »Hier muss ich wohl hinzufügen, dass seine Frau eine Tochter aus erster Ehe hatte. Ein achtzehnjähriges Mädchen.« Er verzog den Mund, als würde er etwas Unangenehmes schmecken. »Jens Olsens Frau gehörte nicht zu unserer Gemeinde, als sie geheiratet haben. Ich habe gehört, aber das ist wohl nur Gerede, dass ihr erster Mann nicht der Vater des Mädchens sein soll. Karen Olsen war ja auch noch recht jung, als sie es bekommen hat.« Er dachte einen Moment nach und nahm dann den Faden wieder auf. »Diese Tochter war in den Weihnachtsferien zu Hause und ... na ja, sie ist ein ziemlich hübsches Mädchen, vielleicht ein wenig zu rund und ein wenig zu ..., aber sehr hübsch, wie gesagt. Und Jens Olsen hat mir anvertraut, dass sie ... Wie soll ich das ausdrücken? ... Ja, dass sie Gedanken in ihm geweckt hat, die ... na ja, kurz gesagt, unanständige Gedanken. Er stand zu ihr schließlich in loco parentis. An Vaters statt.«
»War sie schwanger?«, fragte Therkelsen.
»Schwanger!« Carl Hansen sah ihn schockiert an. »Nein, nein. Nein, davon konnte nicht die Rede sein ... nein, überhaupt nicht. Jens Olsen hat sich vielleicht seine Gedanken gemacht, aber dabei ist es bestimmt auch geblieben.«
Wer weiß!, dachte Therkelsen, unterließ es jedoch, das auszusprechen. Er war sich nicht sicher, ob es gut ankommen würde.
»Ja, aber wo lag dann das Problem?«, fragte Høyer verständnislos. »Wenn doch nichts passiert ist?«
»Er hat in seinem Herzen gesündigt«, erklärte Carl Hansen geduldig. »Ich glaube, darüber war er sich auch selbst im Klaren. Und darin konnte ich ihn nur bestätigen.«
»Was heißt das?«, fragte Høyer.
»Ich habe ihm erklärt, dass er in seinem Herzen Ehebruch begangen hat und dass das eine ebenso große Sünde ist, als wenn er es wirklich getan hätte, und dass er den Herrn bitten muss, den Dämon aus ihm zu vertreiben.«
»Haben Sie das wirklich gesagt?« Høyer sah ihn ungläubig an.
»Das habe ich, denn so ist es«, sagte Carl Hansen mit fester Stimme. »Ich habe ihm auch gesagt, dass vor dem Herrn alle Gebote gleich wichtig sind und dass er nicht besser ist als jemand, der das fünfte Gebot übertreten hat. Wie zum Beispiel der Mensch, der die kleine Bettina ermordet hat. Das war ja gerade zu der Zeit, als viel über den Fall gesprochen wurde«, fügte er erklärend hinzu.
»Das war vielleicht nicht ganz das, was zu hören er gebraucht hätte«, sagte Høyer. »Das war keine große Hilfe für ihn.«
»Ich bin, wie gesagt, kein Seelsorger«, sagte Carl Hansen gänzlich unbeeindruckt. »Ich konnte ihm nicht mehr sagen, als dass er beten und seine Sünden bereuen soll.«
Høyer musste sich beherrschen, keine Grobheit zu erwidern. Er hatte das Bedürfnis, dem Mann in sein selbstzufriedenes, glänzendes Gesicht zu schlagen. Begriff er wirklich nicht, dass er indirekt schuld an Olsens Tat war? Offenbar nicht.
Høyer atmete tief durch. »Was glauben Sie, hat er damit gemeint, dass er ›die kleine Bettina in seinem Herzen getötet hat‹?«, fragte er.
»Das bedeutet, wie er auch schreibt, dass ein Ehebrecher nicht besser ist als ein Mörder und dass er ein Ehebrecher war, weil er in seinem Herzen Ehebruch begangen hat«, erklärte Carl Hansen.
»Sie glauben nicht, dass er damit sagen wollte, dass er Bettina wirklich getötet hat?«
»Kaum.«
»Würde er sich in dem Fall auch so ausdrücken?«, fragte Høyer leicht irritiert.
»Das weiß ich nicht. Ich kann nicht in die Herzen der Menschen hineinsehen.«
Høyer gab es auf, auf diese Weise weiterzukommen.
»Wie Sie sicher wissen, ist Bettina ungefähr fünfzehn Kilometer von hier entfernt verschwunden und wir sind der Meinung, dass ein Auto sie mitgenommen hat. Jens Olsen hatte selbst kein Auto, aber es wäre denkbar, dass er sich eins geliehen hat. Wissen Sie, ob er sich manchmal ein Auto gemietet oder geliehen hat?«
»Das hat er nicht. Er brauchte keins. Aber es ist vorgekommen, dass er für andere gefahren ist. Er hat zum Beispiel meine Frau gefahren, als ich letztes Jahr im Krankenhaus lag.«
»Wann war das?«, fragte Therkelsen.
»Ja, lassen Sie mich nachdenken. Ich bin zu Heiligabend entlassen worden und habe fast vier Wochen im Krankenhaus gelegen. Ich wurde wegen eines Bruchs eingeliefert, aber es stellte sich heraus, dass ich auch Zucker habe.«
Über seine Krankheit sprach er in demselben salbungsvollen Ton.
»Und sonntags hatten Sie vermutlich Besuch?«
»Den hatte ich fast jeden Tag«, sagte er.
»Und Jens Olsen hat Ihre Frau gefahren?«
»Nicht jeden Tag. Nur samstags und sonntags, weil da kein Bus fährt. Meine Frau hat natürlich einen Führerschein, aber sie fährt nicht gerne im Winter, deshalb hat sie in der Woche den Bus genommen.«
»Aber samstags und sonntags hat Jens Olsen sie gefahren. War er da die ganze Zeit mit Ihrer Frau und Ihnen zusammen?«
»Nein, das war er nicht. Er kam immer mit rauf, um mich zu begrüßen, aber in der Regel ist er dann wieder gegangen und hat in der Vorhalle gewartet. Es kam auch vor, dass er seine Schwester besucht hat, wo er schon einmal in der Stadt war.«
»Und dazu hatte er sich Ihr Auto geliehen?«
»Ja. Aber ich kann nicht ernsthaft glauben ...«
Carl Hansen klang plötzlich ganz menschlich.
»Wann pflegte Ihre Frau wieder nach Hause zu fahren?«, fragte Høyer.
»Das war unterschiedlich. In der Regel war sie den ganzen Nachmittag bei mir, aber sie sind immer so gefahren, dass sie am Abend wieder zu Hause waren.«
»Erinnern Sie sich, wann sie am ersten Sonntag im Dezember aufgebrochen sind?«
»Nein, das kann ich nicht. Nicht aus dem Stegreif. Nein, das kann ich nicht. Ich bin aber ziemlich sicher, dass meine Frau ..., nur ist sie im Moment leider nicht zu Hause. Sie kann sich bestimmt daran erinnern. Sie hat ein phänomenales Gedächtnis.«
»Was für ein Auto fahren Sie?«, fragte Therkelsen.
»Einen Opel Rekord«, antwortete Carl