»Ja.« Høyer erhob sich. »Klingt nach einer hässlichen Geschichte. Die Presse würde es eine Familientragödie nennen. Der Mann ist mit einer Axt Amok gelaufen. Hat die Frau und vier Kinder umgebracht und ist anschließend ins Wasser gegangen.«
»Verdammt«, rief Therkelsen. »Da hätte ich Bækgaards One-man-Show dann doch vorgezogen.« Er klopfte seine Pfeife aus und stopfte sie in die Tasche. »Du hast Recht«, sagte er dann. »Mittwoch ist ein grauer Tag.«
Høyer und Therkelsen hatten sich in das kleine Wohnzimmer zurückgezogen, um den Technikern Platz zu machen. Direkt neben der Tür stand ein Ölofen, aber der Raum war eiskalt. Das Zimmer wurde offenbar nicht jeden Tag benutzt. Eine Weile redete keiner von ihnen. Therkelsen stand am Fenster und stopfte seine Pfeife mit ungewöhnlicher Sorgfalt, während Høyer sich auf einem der Wohnzimmerstühle niedergelassen hatte. Er ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Die Möbel hatte er schnell erfasst. Da war ein Esstisch mit sechs Stühlen aus imitiertem Nussbaumholz und ein dazu passendes Büfett, das an der hinteren Wand stand. An einer der Längswände stand ein altmodisches Sofa mit einer geblümten Sofadecke. Darüber hing ein Wandteppich, eine Art Gobelin, der zwei Hirsche vor einem Gebüsch zeigte. Über dem Büfett hing ein fotografischer Druck des leidenden Christus. Auf der Fensterbank standen kleine Topfblumen. Zimmerhopfen und Feuernelken. Høyer verzog leicht den Mund, als sein Blick sie streifte. Den Boden unter dem Esstisch bedeckte gebohnertes Linoleum mit einem verwischten persischen Teppichmuster. Das war alles.
Thorsen kam ins Wohnzimmer.
»Das ist unheimlich!«, sagte Høyer und schüttelte den Kopf. »Irgendwie unheimlich!«
»Widerlich«, stimmte Thorsen zu. »Zeit, dass ich gehe. Ich kann so etwas nicht mehr. Mit dem Alter wird man offensichtlich empfindlicher.«
»Das hat nichts mit dem Alter zu tun«, sagte Høyer. »Wir anderen können das genauso wenig. Vor ungefähr zwanzig Jahren habe ich etwas Ähnliches erlebt und da war es nicht anders. Aber das habe ich nicht gemeint. Ich meinte das Haus. Und das Wohnzimmer hier. Ich habe das Gefühl, dreißig, vierzig Jahre in der Zeit zurückversetzt worden zu sein. In eine Gesindewohnung aus den Vierzigerjahren oder meinetwegen auch aus den Fünfzigern. Mit den auf wenigen Quadratmetern zusammengepferchten Menschen, diesen Möbeln hier, ja eigentlich mit allem. Ich hätte geschworen, dass es so etwas nicht mehr gibt.«
»Hier draußen gibt es noch ein paar davon«, sagte Thorsen. »Aber natürlich nicht mit so vielen Kindern. Da wohnen alte Menschen.«
»Ja, da kann man mal sehen«, sagte Høyer.
»Wovon haben sie eigentlich gelebt?«, fragte Therkelsen. »Doch nicht von diesem winzigen Hof hier?«
»Nein«, sagte Thorsen, »das sind nur zwölf Morgen Land. Früher hat Olsen auswärts gearbeitet, aber dann hatte er einen Unfall mit dem Traktor und hat sich den Rücken verletzt. Er hat den niedrigsten Satz der Invalidenrente bezogen. Von der Unfallversicherung haben sie wohl auch etwas bekommen und außerdem war da noch das Kindergeld. Sie hatten nicht viel, das seht ihr ja, aber ich glaube nicht, dass sie finanzielle Probleme hatten. Nicht in dem Sinn.«
Høyer nickte. Er kannte solche Menschen. Nein, sie hatten bestimmt keine finanziellen Probleme. Nicht in dem Sinn, wie Thorsen sagte. Es gab keine drohenden Tilgungsraten für den Hof, kein Auto und keinen Fernseher. Für diese Menschen ging es einfach darum, etwas am Leib und das tägliche Essen auf dem Tisch zu haben. Für sie hätte das Sozialamt ebenso gut eine Stadt in Russland sein können. Nicht weil es für sie eine Frage der Ehre war, selbst zurechtzukommen, wie einige Romantiker meinten, sondern weil sie keine Ahnung von ihren Rechten hatten. Høyer schüttelte resigniert den Kopf.
»Wie war er?«, fragte er.
Thorsen dachte nach. »Ein stiller, ruhiger Mann«, sagte er dann. »Ein sehr stiller Mann.«
»Hm«, sagte Høyer.
Thorsen merkte, dass man eine etwas genauere Beschreibung von ihm erwartete. »Er hat nie etwas gesagt, zu dem er nicht stehen konnte, und auch das nur widerwillig. Wenn man ihn an einem herrlichen Sommertag draußen auf dem Feld traf und sagte: ›Schönes Wetter heute, Olsen!‹, dann sah er einen erst einmal lange an, als wollte er sichergehen, dass man auch meinte, was man sagte. Dann sah er zum Himmel und anschließend in die Landschaft, und erst wenn er wirklich überzeugt war, dass das Wetter auch schön war, sagte er: ›Ja, das sieht ganz gut aus.‹ So hatte er jedenfalls nicht zu viel gesagt. Ihr kennt den Typ, nicht?«
Høyer musste unwillkürlich lächeln. Ja, er kannte den Typ und er konnte die Situation vor sich sehen, aber dann schüttelte er wieder nachdenklich den Kopf. Ein stiller, ruhiger Mann. Ein sehr stiller Mann. Was hatte ihn plötzlich dazu getrieben, mit einer Axt Amok zu laufen?
»Du hast das eine Kind weggenommen, nicht?« In Wirklichkeit war es mehr eine Feststellung als eine Frage.
Thorsen nickte. »Ja, das musste ich. Wegen der Feuerwehrleute. Der Junge lag ja direkt ... na ja, ich habe den Umriss mit Kreide aufgezeichnet, das habt ihr ja selbst gesehen. Sie kamen mit der Trage nicht durch. Er lag ja fast in der Tür zum Schlafzimmer, ich würde sagen, er hat versucht, zu seiner Mutter zu flüchten. Und der große Junge wollte sich wohl hier im Wohnzimmer in Sicherheit bringen, aber die Tür war verschlossen. Wahrscheinlich damit die Kinder nicht raus- und reinrennen. Das Wohnzimmer wurde bestimmt nicht jeden Tag benutzt.« Er schwieg abrupt, als sähe er die Situation plötzlich vor sich.
Eine Weile war es still.
Therkelsen räusperte sich. »Wann hast du den Mann gefunden?«, fragte er.
»Um Viertel nach neun. Ich war auf dem Heimweg. Ich brauche ungefähr eine Stunde, um meine Runde zu drehen, und im Winter bin ich immer ein bisschen später dran als im Sommer. Es macht keinen Sinn zu fahren, bevor es hell ist.«
»Wie spät war es, als du hierher kamst?«, fragte Høyer.
»Das muss Viertel nach elf gewesen sein. Ich habe nicht gleich daran gedacht, auf die Uhr zu sehen, aber als ich die Feuerwehr gerufen habe, war es kurz nach zwölf. Ich habe sie gebeten, einen Arzt mitzubringen. Und direkt danach habe ich euch angerufen.«
»Was hat der Arzt gesagt?«, fragte Therkelsen.
»Nicht viel.« Thorsen zuckte mit den Schultern. »Ihm ist schlecht geworden. Wegen der Kinder. Das ist immer am schlimmsten, nicht? Aber auch als er sich wieder erholt hatte, konnte er nicht viel sagen. Die Frau musste ja so schnell wie möglich ins Krankenhaus.«
»War sie bei Bewusstsein?«, fragte Høyer.
»Nein, da nicht mehr. Aber als ich kam. So einigermaßen. Ich glaube nicht, dass ihr klar war, was passiert ist. Mit den Kindern, meine ich.«
»Das wird kein schönes Erwachen«, sagte Therkelsen. »Wenn sie überhaupt wieder aufwacht.«
»Ehrlich gesagt, glaube ich nicht daran«, sagte Thorsen und schüttelte sich leicht. Er sah Høyer und Therkelsen an. »Hört mal, wie wäre es, wenn wir zu mir nach Hause fahren und einen Kaffee und einen kleinen Schnaps trinken. Es besteht ja kein Grund, dass wir hier sitzen, und ich habe auch draußen nichts mehr zu tun.«
»Tja«, Therkelsen sah Høyer an, »das wäre vielleicht nicht schlecht.«
»Nein, das wäre sogar sehr gut«, sagte Høyer. »Ich sehe nur nochmal schnell zu den Technikern rein. Sie dürften bald fertig sein, aber wir haben wohl schon ein einigermaßen klares Bild, was passiert ist. Wir wissen nur nicht, was das Ganze ausgelöst hat.«
Asta Thorsen servierte Kaffee und selbst gebackenes Brot, ohne Fragen zu stellen oder Kommentare abzugeben. Als langjährige Ehefrau eines Landpolizisten sah sie ihre Aufgabe darin, es wie die drei Affen zu machen und darüber hinaus das Telefon zu bedienen, zu allen möglichen Zeiten Kaffee zu servieren, für Thorsens Wohlbefinden zu sorgen und ihr Haus in Ordnung zu halten. Und all das erledigte sie vorbildlich. Kinder hatten sie nie gehabt.
»Sie säumt sogar ihre Putzlappen und versieht sie mit Namen«, pflegte Rigmor Høyer mit einer