Thorsen schob Høyer ein volles Glas hin.
»Danke«, sagte Høyer. »Er holt also die Axt draußen aus dem Schuppen. Bestimmt hat er damit gerechnet, sein Vorhaben ausführen zu können, ohne dass jemand wach wird. Er war schließlich kein Unmensch, nicht?« Letzteres kam ein wenig aggressiv, weil er sich die Kommentare vorstellte, die von gewissen Teilen der Presse zu erwarten waren. »Er fängt mit der Frau und dem Baby an, aber dann läuft alles schief. Vielleicht hat die Frau geschrien, jedenfalls werden die Kinder in der Kammer wach und er erwischt nur noch das kleinste der Kinder, das Mädchen, im Bett. Ob sie aufgewacht ist, wissen wir nicht. Die beiden Jungen versuchen zu fliehen und der Größte hat sich wahrscheinlich mit Händen und Füßen gewehrt. Das Ganze hat bestimmt nicht lange gedauert.« Høyer schwieg einen Moment. »Dann geht er durch den Hauswirtschaftsraum hinaus, tötet aus irgendeinem Grund auch den Hund, der dort liegt, dann nimmt er sein Fahrrad, fährt zum Schafstümpel hinunter, schiebt sich unter das Eis und ertrinkt.«
Høyers Stimme hatte völlig nüchtern geklungen, fast tonlos, während er den Tathergang rekonstruierte, und die beiden anderen hatten mit ausdruckslosen Gesichtern zugehört, aber als Høyer fertig war, stieß Thorsen einen tiefen Seufzer aus und griff nach seinem Glas.
»Also ich weiß nicht, aber ich glaube, ich brauche jetzt einen Schnaps«, stieß er hervor und führte das Glas zum Mund, ohne auf die anderen zu warten. Die Situation lud nicht zum Zuprosten ein.
»Das Problem ist, herauszubekommen, warum er das getan hat«, fuhr Høyer einen Moment später fort.
»Stand das nicht in dem Brief?«, fragte Thorsen verblüfft.
»Jedenfalls nicht direkt«, sagte Høyer. »Du kannst ihn ja selbst lesen und sehen, was du daraus schließt.«
Es war dieselbe große, altmodische Handschrift wie auf dem Briefumschlag, aber von Zeile zu Zeile wurde die Schrift krakeliger und unleserlicher.
Thorsen ließ langsam den Blick über das Papier gleiten, dann schüttelte er den Kopf und gab den Brief Høyer zurück.
»Er ist verrückt«, sagte er. »Das schließe ich daraus. Total verrückt. Oder besser gesagt war. Das Ganze hat doch weder Hand noch Fuß. Religiöser Wahnsinn, wenn ihr meine Meinung hören wollt.«
»Ja, vielleicht«, sagte Høyer und zuckte mit den Schultern. »Aber was sagst du zu der Bemerkung über das Mädchen?«
»Nichts«, sagte Thorsen. »Das hat nichts zu bedeuten.«
»Oder doch«, sagte Therkelsen.
»Wir müssen der Sache auf jeden Fall nachgehen«, meinte Høyer.
»Ihr meint den Fall Bettina?« Thorsen klang skeptisch.
»Ja«, sagte Høyer. »Denn von ihr ist doch wohl die Rede, oder? Daran besteht nicht der geringste Zweifel. Hört zu.« Er hielt das Papier ein Stück von sich weg und las laut: »Ich bin ein Sünder. Der Teufel handelt in mir und durch mich. In meinem Herzen habe ich Ehebruch begangen und die Sünden der Väter vererben sich auf die Kinder, deshalb lasst die kleinen Kinder zu Ihm kommen, denn wer sich über eines dieser Kleinen entrüstet, den möge ein Mühlstein in das tiefe Wasser ziehen. Ein Ehebrecher ist auch ein Mörder, deshalb habe ich in meinem Herzen die kleine Bettina getötet und der Sold der Sünde ist der Tod, doch wer an Ihn glaubt, geht nicht verloren, denn Er ist die Auferstehung und das Leben.«
Thorsen schüttelte den Kopf. »Man hört doch, dass der Mann total verrückt war. Das ist sonnenklar.« Plötzlich verstummte er, ihm war ein Gedanke gekommen. »Ob sie das gemeint hat?«
»Wer?«, sagte Therkelsen. »Wer hat was gemeint?«
»Seine Frau«, sagte Thorsen. »Jens Olsens Frau. Ich habe noch kurz mit ihr gesprochen und da hat sie gesagt, dass er das nicht getan hat. Zuerst hat mich das verwirrt, weil ich dachte, sie meinte das andere, das Gemetzel, aber dann hat sie gesagt, dass er nichts mit dem Mädchen zu tun hatte.«
»Mich würde interessieren, ob er mit ihr darüber gesprochen hat«, sagte Therkelsen.
»Das werden wir wohl nie erfahren«, meinte Thorsen.
»Mit wem kann er sonst gesprochen haben?«, fragte Høyer.
Thorsen zuckte mit den Schultern. »Mit niemandem, denke ich. Er war, wie gesagt, ein sehr stiller Mensch.« Er dachte kurz nach. »Es sei denn, er hat sich dem Pfarrer – oder wie sie ihn nennen – anvertraut. Dem Missionar. Sie waren ja Mitglieder irgendeiner Sekte. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass er mit ihm geredet hat. Obwohl ... der hätte ihm das doch bestimmt ausgeredet. Aber das mit Bettina ... nein, das glaube ich nicht. Nicht Jens Olsen. Das ist absolut unwahrscheinlich. Außerdem hat er kein Auto. Und sie ist doch von einem Auto mitgenommen worden, nicht?« .
»Ja«, räumte Therkelsen ein. »Aber wenn der Mann selbst schreibt, dass ... Glaubst du, er kann sich ein Auto geliehen haben?«
»Ich glaube nicht einmal, dass er einen Führerschein hatte. Oder ... doch, den hat er bestimmt gemacht, als er Soldat war. Ja, er muss einen Führerschein gehabt haben, aber ich habe ihn seit seinem Unfall nicht mehr fahren sehen.«
»Hm«, sagte Høyer. »Wo wohnt dieser Pfarrer oder Missionar oder wie auch immer er genannt wird?«
»Im letzten Haus rechts, wenn man Richtung Osten aus der Stadt fährt«, sagte Thorsen. »Ein großer, weißer Hof mit einer Scheune, die zum Weg hin liegt. Er heißt übrigens Carl Hansen.«
»Was ist er für ein Mensch?«, fragte Therkelsen.
»Tja, was ist er für ein Mensch?«, sagte Thorsen und kam mit einer seiner Kurzbeschreibungen. »Ein richtiger Supertyp.«
Therkelsen zog verblüfft die Augenbrauen hoch und Thorsen fügte hinzu: »Aber ich mag ihn nicht besonders. Scheinheilig ist er und selbstgefällig. Er glaubt, dass für ihn im Himmel ein Platz reserviert ist.«
»Glaubst du, dass er uns erzählen wird, ob Jens Olsen sich ihm anvertraut hat?«
»O ja, mehr als gerne«, meinte Thorsen. »Wenn er sich dadurch wichtig vorkommen kann.«
»Scheint ein charmanter Typ zu sein«, meinte Therkelsen. »Er heißt wohl nicht zufällig Bækgaard? Man könnte meinen, er gehört zur Familie.«
»Nein, habe ich nicht gesagt, dass er Carl Hansen heißt?«, fragte Thorsen verständnislos.
»Doch, hast du«, sagte Høyer. »Kümmer dich nicht um ihn. Auf alles, was auch nur im Entferntesten mit Bækgaard zu tun haben könnte, reagiert er absolut allergisch.«
Es war ein vierflügeliger Hof mit einem langen, niedrigen Herrenhaus rechts von der Einfahrt. Alles sah nach Wohlstand aus. Der Kontrast zu dem beengten Anwesen, von dem sie kamen, war überwältigend.
Carl Hansen öffnete ihnen selbst. Nach Thorsens Beschreibung des Mannes hätte Høyer vorbereitet sein müssen, aber er hatte trotzdem einen etwas asketischeren Menschen erwartet. An Carl Hansen war nichts Asketisches. Er war nicht nur fett, er glänzte geradezu. Als würde das Fett langsam schmelzen und durch die Haut nach außen drängen. Ein Rand sandfarbenen Haars umrahmte die blanke Glatze und verlieh ihm das Aussehen eines frivolen Mönchs. Seine Stimme war leise und salbungsvoll und passte zu dem jovialen Äußeren wie ein McCloudhorn zu einem Omnibus.
Høyer kam zu dem Schluss, dass Carl Hansen nicht sein Fall war.
Hansen führte sie ins Wohnzimmer, und sobald sie Platz genommen hatten, unterrichtete ihn Høyer so kurz wie möglich über den Stand der Dinge. Der Mann faltete stumm die Hände und saß lange mit geschlossenen Augen da. Høyer und Therkelsen wechselten einen Blick. Betete er oder war das Ganze nur Show?
Schließlich öffnete er die Augen