Ich weiß nicht mehr, ob es zwei oder drei Tage dauerte, bis wir endlich von Koburg wegkamen. Direktor Kölle kriegte es jedenfalls fertig, trotz des völligen Durcheinanders der Eisenbahnen, einen Extrazug für uns zu bekommen, mit dem wir dann langsam und in langen Pausen — aber fast unbelästigt von Fliegern — immer weiter nach Süden dampften. Spernser war am letzten Tag noch auf Betreiben des Hausknechts Maiboom verhaftet worden. Aber wir kriegten ihn nach ein paar Stunden wieder frei. Denn wir hatten ausgezeichnete Papiere, in denen uns bescheinigt war, daß wir kriegsentscheidende Aufgaben zu lösen hätten. Spernser zog es dann allerdings vor, mit seinem Ford sogleich abzufahren. Er nahm Herma Zacke und Didi Seifert samt ihren Schmuckkoffern mit. Fräulein Schütze wurde ihm als Quartiermacherin beigegeben. „Aber nicht nur für Vittorio Quartier machen“, sagte ihr Willigrodt und drohte mit seinem leeren Ärmel. „Sondern?“ fragte die Schütze frech. „Sondern auch für Manuela“, sagte ich böse. Sie schnitt mir eine Fratze, und das Auto fuhr davon.
Nach unserem Verlagerungsplan 4b/153/154 war uns die kleine Kreisstadt Rönitz a. R. am Fuße des Bayrischen Waldes zugewiesen. Rönitz war laut Brockhaus ein Städtchen mit 7300 katholischen, 233 evangelischen und 12 jüdischen Einwohnern. Mit Sägereien, einer Ziegelei, einer weltberühmten Samenzüchterei und einer landesberühmten Barockkirche. A. R. hieß an der Rönitz, die, ein winziger Gebirgsfluß, die Stadt durchfloß und sie in Ober-Rönitz und Unter-Rönitz, die Villenstadt und die Arbeiterstadt, einteilte. Kölle besaß einen Plan von Rönitz in mehreren Blaupausen und im Maßstab 1:250. Wir vertrieben uns auf der Fahrt die Zeit damit, uns alle in Häusern von Ober-Rönitz unterzubringen. Fräulein van Zamen, das Häschen, wurde im Pfarrhaus einquartiert, ihres gesetzten Alters wegen und weil sie ihrer barocken Figur halber ganz gut in die Nähe der Barockkirche passen würde. Fräulein Schröder, die ständig über neue Leiden klagte, gaben wir das Quartier beim Arzt. Willigrodt wurde beim Tierarzt einquartiert, dem wir es zutrauten, seinen recht soldatischen Ton zu ertragen, und Tellermann bekam, um sich im Schnellgehen weiter üben zu können, ein einsames Haus einen Kilometer von Unter-Rönitz. Spernser sollte ein Zimmer in der Nähe des Klosters beziehn, damit er seine Kennerschaft der Frauenseele auch auf dieses ihm noch unbekannte Gebiet ausdehnen könnte. Bei dieser kriegsentscheidenden Beschäftigung tranken wir sehr viel Likör aus Vittorios Kiste, die mir Fräulein Schütze unter vielen Beschwörungen zu treuen Händen übergeben hatte. Den Orangenlikör hatten wir schon in Koburg außgetrunken. Jetzt war ein dunkelgrüner Bergamotte dran, ein wasserfarbener Genever, dann ein recht guter deutscher Kümmel. Schließlich blieben noch ein paar Flaschen mäßiger deutscher Weinbrand übrig.
Denn schließlich waren wir auch da. Wir wurden von Fräulein Schütze empfangen und dem Bürgermeister von Rönitz, der uns mitteilte, daß wir trotz unseres Verlagerungsplanes 4b/153/154 und obgleich ein ministerielles Schreiben alle Behörden und Dienststellen anwies, uns weitestgehend zu unterstützen, unmöglich in Rönitz Unterkommen könnten. Denn unterdessen hatte sich hier das Hauptquartier einer Armee eingenistet, der Stab eines Korps, die Intendantur einer ganzen Heeresgruppe. In jedem Zimmerchen des im übrigen vom Kriege völlig verschonten Städtchens, dessen Einwohner, aus ihrem wohlgenährten Friedensschlaf geweckt, verdutzt und ängstlich dem manöverähnlichen Kriegstreiben zusahen, in jedem Zimmerchen lag eine Schreibstube, ein General oder wenigstens ein Generalstabsoffizier. Aus allen Fenstern hörte man Telephone klingeln, hörte man, wie Befehle so ruhig und sachlich erteilt wurden, als ob dieses Armeeoberkommando noch über eine wohlbewaffnete und kämpferische Armee verfügte und nicht nur über versprengte Häuflein abgerissener, erschöpfter, nahezu waffenloser, vom Nötigsten abgesehnittener, verwirrter Truppenteile. Beim Anblick dieses friedlichen Kriegsspiels, das noch durch ganze Parks wundervoller Autos eine prächtige Note bekam, schöpfte unser alter Tellermann wieder Hoffnung. Der alte preußische Geist, so meinte er, lebe noch, und alles werde sich durch ein Wunder zum Besten wenden.
Zunächst freilich vertrieb uns der alte preußische Geist aus Rönitz. Man hatte uns Quartier gemacht in dem zehn Kilometer entfernten kleinen Dorfe Wallberg. Das Armeeoberkommando ließ gerade für unsere kriegsentscheidenden Aufgaben eine Feldtelephonleitung nach Wallberg legen und stellte uns eine Reihe von LKWs zur Verfügung, mit denen wir unsere Möbel, Büromaschinen, Akten und Koffer hinaufbefördern konnten. Bis das alles geordnet war, standen wir in der Sonne dieses angenehmen Februar ages am Ufer der vom Tauwasser kräftig strömenden Rönitz und sahen zu, wie die Schuljungen, die natürlich längst keine Schule mehr hatten, nach Forellen angelten, die angeblich um diese Zeit in großen Mengen die Rönitz durchschwimmen sollten. Aber es wurde nicht eine einzige Forelle gefangen.
Hinter unserem Rücken ging unterdes das Kriegsspiel weiter. Prächtige Autos, mit wohlgekleideten, frisch aussehenden Offizieren, kamen an und fuhren ab. Der Oberkommandierende, ein straffer, älterer Herr mit weißem Bürstenschnurrbart und blitzenden Orden, begab sich in einer ganzen Autokarawane zur Front, Die Front schien nicht sehr weit entfernt zu sein. Denn nach knapp drei Stunden, gerade als wir unsere endlich beladenen Lastwagen bestiegen, war er wieder da. Und gleich darauf, während wir schon zwischen unseren Koffern hockten, kam ratternd und tutend ein riesiger LKW mit Anhänger durch die Straße. Vom Führersitz winkte lachend Vittorio Trenti und sah sich einen Augenblick suchend um. Fräulein Schütze stürzte winkend auf den Wagen zu, stutzte und wurde dann etwas widerstrebend von Vittorios starken Armen hineingezogen. „Ich will nicht“, hörten wir sie rufen. Aber das schien nichts zu nützen. Sie blieb verschwunden, und der Lastzug setzte sich nach Wallberg zu in Bewegung. Wir folgten langsam und in Abständen. Die Straße war ziemlich steil und kurvenreich. Es lag auch noch an den schattigen Stellen Schnee. Die Wagen kamen nur langsam vorwärts, und wir mußten einen, der steckengeblieben war, durch Vorlegen von Buschholz und Säcken wieder flottmachen. So wurde es schon dämmerig. ehe wir in Wallberg ankamen.
Gleich im ersten Haus, einem stattlichen, breitfenstrigen Bauernhaus, sahen wir Vittorio in Manchesterhosen, bis zum Knie geschnürten neuen Stiefeln, weißem Pullover und hellblauem, weißgepunktetem Halstuch (genau in der Farbe seiner Augen) eifrig hantieren. Die Fenster waren trotz strengen Verdunklungsbefehls strahlend erleuchtet. Als wir ihn anriefen, kam er vergnügt herausgelaufen. In einer Viertelstunde sei er fertig eingerichtet, und wir müßten alle am Abend zu ihm kommen, allein schon, um Manuela kennenzulernen. „Es gibt Bergamotte, Genever und Kümmel“, sagte er fröhlich. „Vielen Dank“, antwortete ich, „aber es gibt nur einen mäßigen deutschen Weinbrand.“ Er verstand mich sofort und lachte schallend, sein unwiderstehliches tenorales Südländerlachen: „Ihr verfluchten Hunde! Das nennt ihr zu treuen Händen. Na ... dann bringt wenigstens den Kognak mit. Weiß nicht, ob ich bis heute abend schon was Besseres habe.“ Damit lud er von seinem Lastwagen einen großen Packen Teppiche und tänzelte damit ins Haus.
In der Gastwirtschaft fanden wir Fräulein Schütze beim Gastwirt und Bürgermeister Gruber vor dem Quartierplan. Die Schütze hatte Heulsäcke unter den Augen und war schnippisch und bösartig. Sie hatte offensichtlich über ihrer Privataffäre die Quartiersache vernachlässigt. Spernser, der schon seit zwei Tagen da war, kam uns zu Hilfe. Er saß, wie er berichtete, mit den Damen Zacke und Didi Seifert im zweitbesten, Haus. Das beste hatte er durch einen Flüchtigkeitsfehler übersehen. Aber Vittorio hatte es mit seiner Photographenspürnase gleich herausgeschnüffelt und saß nun fest drin.
„Da gehört Kölle hinein“, rief die Schütze dazwischen, „schließlich ist er der Chef.“
„Fernhinzielende Schützin, sagittaria auf lateinisch“, rief Spernser, „du magst mit listigem Pfeil alle Feinde töten können. Aber Manuela aus ihrem Besitz vertreiben — und ihr gehört alles, wohin sie nur einmal die Spitze ihres zierlichen Tanzfußes gesetzt hat ...“
„Quatsch keine Opern, Spernser, ich habe Kölle schon hingeschickt. Es gibt gar kein anderes Quartier für ihn.“
„Soviel bayrische Geschichte solltest du selbst als landfremde Ostpreußin kennen, sagittaria ... gegen Tänzerinnen kämpfen Könige selbst vergebens.“
Die Schütze wollte wieder grob erwidern, wurde aber von einem hysterischen Schluchzen gepackt und rannte hinaus. Bürgermeister Gruber betrachtete seufzend und gähnend mit vielen